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65. Berlinale – Der Rückblick

By Chris­t­ian Felix

Berli­nale 2015 – Iden­titäten

Vom Jubel zum Ingrimm, vom hal­bge­frore­nen Sprühre­gen zur Vor­früh­lingssonne: Berlin und die Berli­nale warteten 2015 mit Kon­trasten auf. Das ist natür­lich jedes Jahr so. Beim Besuch der 65. Berli­nale trat­en sie jedoch deut­lich­er als son­st her­vor. Dies hängt möglicher­weise mit dem Ver­lauf des indi­vidu­ellen Besucher­pro­gramms zusam­men.

Wo ist das Fes­ti­val geblieben?

Zuweilen läuft es wie ver­hext: Die bei­den Filme, die man am lieb­sten sehen würde, laufen zur gle­ichen Zeit und für den drit­ten sind keine Kinokarten mehr erhältlich. Umso gröss­er die Freude am ersten Abend. Kurz vor Film­be­ginn im Parade­palast des Films der ehe­ma­li­gen DDR, im “Kino Inter­na­tion­al», Karten für einen Wet­tbe­werb­s­beitrag: “Jour­nal d’une femme de cham­bre» des franzö­sis­chen Regis­seurs Benoit Jacquot. Etwas Skep­sis kommt von Anfang an auf. Luis Buñuel, seines Zeichens Kul­tregis­seur, hat den Stoff welt­bekan­nt gemacht. Zuvor wurde das “Jour­nal» schon mal ver­filmt. Es fragt sich, ob es der neuen, nun drit­ten Fas­sung gelingt, die älteren Filme in dem einen oder anderen Punkt zu übertr­e­f­fen. Son­st wäre doch die gigan­tis­che Anstren­gung, die es braucht, um einen Film zu drehen, vergebens.

Das Kino Inter­na­tion­al ist an diesem Abend wed­er richtig geheizt noch ganz voll. Das ist aber nicht der Grund, weshalb “Jour­nal d’une femme de cham­bre» weit unter den Erwartun­gen bleibt. Der Film zeigt in keinem Moment, worum es über­haupt geht. Selb­st die Kulisse ist unsorgfältig gemacht. Die Berli­nale 2015 stellte als einen ihrer inhaltlichen Schw­er­punk­te den sex­uellen Miss­brauch in den Mit­telpunkt. Man kann den Film von Benoit Jacquot auch unter diesem Gesicht­spunkt betra­cht­en. Allerd­ings zeigt sich dann, dass das The­ma Miss­brauch in der neusten Fas­sung vol­lkom­men von Neben­hand­lun­gen ver­schüt­tet wird. So ste­ht man dann nach Mit­ter­nacht im Niesel­re­gen ein­sam am Alexan­der­platz, und fragt sich, wo die Berli­nale geblieben ist, die tollen Filme, die Stim­mung, die Aufre­gung.

The­men­fokus

Es geht an einem Fes­ti­val nie ein­fach nur um die Filme. Das Atmo­sphärische darum herum, die Summe der Begeg­nun­gen zwis­chen Men­schen aus dem Pub­likum, Film­schaf­fend­en und Pres­se­leuten entschei­det am Ende darüber, in welch­er Stim­mungslage man sich in Kino set­zt. Einen Tief­punkt in dieser Rich­tung leis­tete sich der Regis­seur Mitchell Licht­en­stein. Sein Film “Angel­i­ca» beein­druckt und unter­hält das Pub­likums bestens. Es geht um die Sex­u­al­ität ein­er Ehe­frau im vik­to­ri­an­is­chen Zeital­ter. Bei seinem Auftritt vor dem Pub­likum wirkt der Regis­seur allerd­ings demo­tiviert und gelang­weilt. Er scheint “Angel­i­ca» vor allem gedreht zu haben, um sein­er Lauf­bahn ein weit­eres Werk anzufü­gen. So wenig Engage­ment für eine Sache dämpft die Begeis­terung des Fes­ti­valbe­such­ers.

Dabei ist das The­ma “Miss­brauch» dur­chaus dazu geeignet, Filme um einen span­nen­den Schw­er­punkt zu ord­nen. Ger­ade auch wenn man den Fokus etwas ausweit­et auf die Frage von erzwun­genen oder frei gewählten Rollen in der Gesellschaft und die Suche nach der sex­uellen Iden­tität. Um solche The­men kreisen an der 65. Berli­nale in der Tat sehenswerte Filme. So etwa “I am Micheal» von Justin Kel­ly. Ein Schwu­le­nak­tivist wen­det sich dem fun­da­men­tal­is­tis­chen Chris­ten­tum zu und kon­vertiert damit sozusagen zur Het­ero­sex­u­al­ität. Justin Kel­ly überzeugt mit seinem Film vor allem deshalb, weil er kein Urteil darüber fällt, welche Rolle im Leben des Pro­tag­o­nis­ten die richtige ist.

Die Glück­tr­e­f­fer

Auch ein Spi­on lebt ver­schiedene Iden­titäten. Span­nend wird es, wenn ein junger Men­sch Spi­on wider Willen wird. Dies ist der Inhalt der neuen Fernsehserie “Deutsch­land 83». Die Hand­lung lehnt sich ein Stück weit an die erfol­gre­iche US-Serie “The Amer­i­cans» an. Sie find­et aber im Span­nungs­feld BRD und DDR viel Nahrung für ihren Inhalt. Die ersten bei­den Fol­gen sind ein echter Thriller. Der Besuch­er ver­gisst am Beginn der Vorstel­lung, die Kinokarte wegzusteck­en und find­et sie am Ende zerknüllt in sein­er Hand wieder, der­massen fes­selt “Deutsch­land 83». So ist man dann endlich in der Berli­nale angekom­men, begeis­tert, aufgewühlt und ges­pan­nt auf die Fort­set­zung. Selb­st, wenn man Pech hat, trübt das die Stim­mung nicht weit­er. Die let­zte Karte für den neuen Film von Mar­garethe von Trot­ta “Die abhan­dene Welt» wird einem vor der Nase von ein­er Dame weggeschnappt, die sich vorge­drängt hat. Die Fes­ti­valbe­sucherin hin­ter einem schimpft und meint dann: “Früher war der Ton hier ein­fach fre­undlich­er.» Vielle­icht. Oder auch nicht. Berlin bleibt Berlin. Das kann man auch als War­nung ver­ste­hen.

Doch an Mut soll es nicht fehlen. Man wählt auch mal Filme aus, von denen nie­mand spricht, und die keine Vorschus­s­lor­beeren bekom­men haben. So hebt man zuweilen ver­bor­gende Schätze. Beispiel­sweise im Fall eines Filmes, der 35.000 Euro gekostet hat, und den der junge Musik­er und Regis­seur Moritz Krämer in vier Monat­en entwick­elt hat. “Bube», so der Filmti­tel, begin­nt etwas lan­gat­mig, berührt aber auf ein­dringliche Weise. Im Film geht es um den Stolz eines wehrlosen Bauern in der tiefen Prov­inz. Und damit auch um den Behaup­tungswillen eines abgeschiede­nen Land­strichs gegenüber den grossen Metropolen.

Wahre Schick­sale

Das Gefälle zwis­chen den Metropolen und dem abgele­ge­nen Hin­ter­land bildet auch im Wet­tbe­werb­s­film “Vergine giu­ra­ta» den Hin­ter­grund. Zwei Schwest­ern fliehen aus den alban­is­chen Bergen in die Grossstadt Mai­land. Im Mit­telpunkt dieser wahren Geschichte ste­ht die Ältere, die ein Mann gewor­den ist, um der rigide einge­gren­zten Frauen­rolle in der archais­chen Welt Alban­iens zu ent­ge­hen. Diesen Weg lässt die Tra­di­tion der Men­schen in den Bergen offen. Doch sie ist nicht glück­lich als Mann. In Mai­land lösen sich ihre Fes­seln. Aus dieser Fig­ur macht die Ital­iener­in Alba Rohrwach­er ein Glanzstück des Schaus­piels. Sie ist von der Jury dafür nicht aus­geze­ich­net wor­den. Das mag an der einen oder anderen Schwäche im Film liegen, der von der Insze­nierung und der Kam­era her sein hohes Niveau nicht durchge­hend hält.

Immer­hin zwitsch­ern inzwis­chen die Spatzen in den Hin­ter­höfen. Die Film­bilder vertreiben zusam­men mit der Feb­ru­ar­son­ne die Berlin­er Win­ter­de­pres­sion. Da machte es auch gar nichts mehr aus, dass die nachge­spiel­ten Szenen in der Doku-Fic­tion “Härte» schwarz-weiss gedreht sind, zumal der Regis­seur Rosa von Praun­heim heisst. Mit Rosa, seinem Vor­na­men, spielt auch er mit sein­er geschlechtlichen Iden­tität. In seinem Film the­ma­tisiert er den sex­uellen Miss­brauch eines kleinen Jun­gen durch seine Mut­ter, sprengt damit natür­lich alle Klis­chees. Der Junge wird als Mann zum Karatewelt­meis­ter und bru­talem Zuhäl­ter. Lange Ther­a­pi­en haben ihn später zu einem gesellschafts- und beziehungs­fähi­gen Men­schen gemacht. So ste­ht er mit Rosa und sein­er Fre­undin auf der Bühne, blickt ins Pub­likum und irgend­wie zurück in ein sehr berlin­is­ches Leben. Zum Glück gibt es die Berli­nale. Sie war 2015 ein ganz solid­er Jahrgang. Auf das Spitzen­jahr hof­fen wir im Feb­ru­ar 2016.

: http://www.kulturkritik.ch/2015/65-berlinale-der-rueckblick/

Artikel online veröffentlicht: 5. März 2015 – aktualisiert am 18. März 2019