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«Bern soll sein Orchester mit Stolz und Freude betrachten!»

Von Son­ja Koller - Herr Boreyko, Sie dirigieren heute Abend bere­its Ihr let­ztes Abon­nementskonz­ert der laufend­en Spielzeit. Wie haben Sie die erste Sai­son als Chefdiri­gent in Bern erlebt?

Ich habe diese Stelle in Bern angenom­men, weil ich von Anfang an von der Möglichkeit ein­er sehr guten Zusam­me­nar­beit zwis­chen dem Orch­ester und mir überzeugt war. Hier beste­ht die Chance zu ein­er schöpferischen Entwick­lung. Nach den sechs Konz­erten, die ich bish­er geleit­et habe, ist mein Ein­druck ins­ge­samt sehr pos­i­tiv. Wir arbeit­en gerne zusam­men und bewe­gen uns in die richtige Rich­tung.

Man hat­te mir gesagt, das Pub­likum in Bern sei rel­a­tiv zurück­hal­tend. Das sehe ich gar nicht so, im Gegen­teil. Ich bin sehr pos­i­tiv über­rascht, wie warm, wie nett und wie frenetisch manch­mal dieser Applaus ist. Dazu kommt, dass ich spüre, wie unser Spiel beim Pub­likum auf eine emo­tionale Res­o­nanz stösst. Die Leute reagieren nicht nur auf die Qual­ität unser­er Arbeit, son­dern sie ver­ste­hen auch, was wir mit unser­er Musik erzählen oder mit­teilen möcht­en. Das ist natür­lich toll, darüber freue ich mich sehr.

So wie gestern Abend? Das Casi­no war auch prak­tisch ausverkauft.

Ja, das ist über­aus pos­i­tiv. Ich habe gehört, dass in der let­zten Spielzeit nicht alle Konz­erte sehr gut besucht waren, und werde ver­suchen, dies Schritt für Schritt zu ändern. Ich möchte in Zukun­ft immer häu­figer sagen kön­nen: «Sie möcht­en eine Karte für das Konz­ert heute Abend? Ich freue mich über Ihr Inter­esse, aber es tut mir leid, wir haben schon alle Karten verkauft!»

Gibt es bere­its Höhep­unk­te, an die Sie sich beson­ders gerne erin­nern?

Schw­er zu sagen, denn jedes Konz­ert hat eine bes­timmte Auf­gabe und ein bes­timmtes Ziel. Ich wollte in dieser Spielzeit Werke in ver­schiede­nen Stilen spie­len, um das Orch­ester ken­nen zu ler­nen. Deshalb habe ich Pro­gramme aus­gewählt, die stilis­tisch sehr ver­schieden sind. Ich glaube, die Spielzeit war so gebaut, dass man keines der Konz­erte als Höhep­unkt her­ausheben kann. Ausser­dem ver­ste­he ich alle Pro­gramme als meine Kinder, beziehungsweise zusam­men mit dem Orch­ester als «unsere gemein­samen Kinder». Keines der Kinder soll vor den anderen bevorzugt wer­den.

Nun, da Sie das BSO etwas bess­er ken­nen: Wie wür­den Sie seine Eigen­heit­en beschreiben? Welch­es sind seine Stärken, wo liegen Schwächen?

Ich würde nicht den Begriff «Schwäche» ver­wen­den. Ich nenne es lieber «noch weniger bear­beit­ete Felder». Eine Schwäche ist etwas, das man kaum oder gar nicht ändern kann. Dies gibt es bei uns nicht. Hinge­gen sehe ich Bere­iche, in denen wir noch mehr arbeit­en müssen: Ich würde sagen, das Orch­ester braucht mehr Gefühl für Plas­tiz­ität und Flex­i­bil­ität. Das Spiel darf noch run­der, impro­visatorisch­er wer­den. In einem Teil des Reper­toires braucht man dur­chaus sehr präzis­es, strikt rhyth­mis­ches Spiel. Aber immer, auch in einem solchen Reper­toire, sollte das Orch­ester mehr atmen. Und um mehr zu atmen, muss man bess­er aufeinan­der hören und ständig in Kon­takt mit dem Diri­gen­ten bleiben. Wenn sich jemand ganz auf seine Noten konzen­tri­ert und ich etwas anders machen möchte als in der Probe — denn Musik kann man nicht zwei Mal genau gle­ich wieder­holen, das ist abso­lut aus­geschlossen — dann kann er oder sie nicht auf meine Zeichen reagieren. Die Musik­er müssen den Diri­gen­ten im Augen­winkel behal­ten und ständig auf seine Gesten reagieren. Man weiss nie, was kom­men wird. Und wenn von neun­zig Musik­ern auch nur drei nicht mit­machen, dann klingt es bere­its nicht mehr ide­al, es gibt ein Gefühl von nicht ganz sauberen Übergän­gen.

Auf der anderen Seite ist unser Orch­ester sehr stark darin, präzise und rhyth­misch zu spie­len. Das ist inter­es­sant, es han­delt sich eigentlich um zwei Seit­en der­sel­ben Medaille: Auf der einen Seite ste­ht die Aufmerk­samkeit gegenüber dem Noten­text. Hier ist alles genau sicht­bar und les­bar. Die andere Seite bet­rifft die Aufmerk­samkeit gegenüber dem Diri­gen­ten, gegenüber der schöpferischen Arbeit und dem Uner­warteten. Diese Seite muss noch deut­lich­er graviert wer­den.

Wie gut haben Sie die Stadt Bern unter­dessen ken­nen gel­ernt?

Noch viel zu wenig. Da ich meis­tens mor­gens und abends Probe habe, bieten sich sehr wenige Möglichkeit­en, irgend­wo hinz­u­fahren. Ausser­dem gibt es zwis­chen den Proben immer etwas zu tun. Doch in der näch­sten Spielzeit werde ich ein oder zwei Mal in zwei aufeinan­der fol­gen­den Wochen Konz­erte leit­en. An den dazwis­chen liegen­den Woch­enen­den würde ich mir gerne die Gegend rund um Bern anse­hen. Immer­hin, durch die Alt­stadt bin ich schon oft hin­durchspaziert und ich habe das Klee-Zen­trum besucht. Aber es gibt noch vieles zu ent­deck­en.

Sie haben vorhin die kom­mende Spielzeit ange­sprochen. Kön­nen Sie bere­its Genaueres darüber ver­rat­en?

Nein, das darf ich nicht. Aber es ste­ht schon alles unter Dach und Fach. Ich hoffe, dass die näch­ste Konz­ert­sai­son min­destens so span­nend wird wie die aktuelle. Wir haben auch ein paar sehr inter­es­sante Solis­ten und Diri­gen­ten gewin­nen kön­nen.

Wann wird das neue Pro­gramm bekan­nt gegeben?

Am 21. April ver­anstal­ten wir eine Pressekon­ferenz.

Und Sie dirigieren mehr Konz­erte als in der aktuellen Spielzeit?

Ja, ich werde ins­ge­samt zehn Konz­erte leit­en. Auch in den fol­gen­den Jahren wer­den es jew­eils zehn Konz­erte sein. In der laufend­en Sai­son sind es nur sieben, weil ich noch ander­weit­ige Verpflich­tun­gen habe, die bere­its abgemacht waren, als ich die Stelle in Bern annahm.

Wie sollte das BSO Ihrer Ansicht nach von der Bern­er Bevölkerung wahrgenom­men wer­den? Welche Rolle soll das Orch­ester in der Stadt spie­len?

Das ist eine gute Frage, denn ich habe den Ein­druck, dass es hier — obwohl bere­its viel gemacht wurde und gemacht wird — noch rel­a­tiv viel zu tun gibt. Wenn wir heute zehn beliebige Leute, die hier auf der Strasse vor­bei kom­men, fra­gen wür­den, ob es in Bern ein Orch­ester gibt, wo es spielt, und wie der Chefdiri­gent heisst, dann bin ich nicht sich­er, ob die Hälfte der Befragten alle Antworten wüsste. Ich würde mir sehr wün­schen, dass in zwei bis drei Jahren min­destens acht von zehn Pas­san­ten diese drei Frage richtig beant­worten kön­nten. Denn die Musik­er des Bern­er Sym­phonie-Orch­esters ver­di­enen es, in der Stadt Bern bekan­nter und beliebter zu sein. Ich wün­sche mir, dass das BSO zu einem Teil von Berns Vis­itenkarte wird. Zu einem von Berns Marken­ze­ichen — so wie die Bären, das Mün­ster oder der Zibelemärit.

Um dies zu real­isieren brauchen wir natür­lich auch die Hil­fe der Bevölkerung, unsere geehrten Poli­tik­er eingeschlossen. Es freut mich sehr, dass ich immer mehr wichtige und ein­flussre­iche Damen und Her­ren der Polit­bühne an unseren Konz­erten sehe und tre­ffe. Das ist ein gutes Zeichen. Aber vom Guten gibt es nie zu viel! Bern ist die Haupt­stadt der Schweiz und das BSO das Sin­fonieorch­ester der Haupt­stadt. Dies ist eine Ver­ant­wor­tung, und wir sind bere­it, zu beweisen, dass wir die Schweiz in der Welt präsen­tieren kön­nen. Natür­lich gibt es in diesem Land bere­its ein wun­der­bares Orch­ester mit Wel­trep­u­ta­tion, aber das bedeutet nicht, dass das BSO deshalb im Schat­ten ste­hen bleiben muss.

Wir wer­den alles tun, um unsere Qual­ität immer weit­er zu verbessern. Und es muss sich herum­sprechen, dass sich das Orch­ester auf dem Weg nach oben befind­et. Wir haben ein wun­der­bares Stamm­pub­likum, das unsere Qual­ität genau ken­nt, doch es gibt noch eine grosse poten­zielle Gruppe von Fre­un­den. Ich möchte unbe­d­ingt noch mehr Men­schen an unsere Konz­erte holen und ihnen zeigen, dass nicht nur Bern­er Gäste wie das Lon­don Sym­pho­ny Orches­tra oder die Wiener Phil­har­moniker gut spie­len kön­nen. Das BSO ist ein sehr guter Klangkör­p­er. Ich sehe grosse Per­spek­tiv­en und habe viel Hoff­nung für dieses Orch­ester.

Wie sehen Sie denn ganz all­ge­mein die Funk­tion der klas­sis­chen Musik in unser­er Gesellschaft?

Klas­sis­che Musik ist ein untrennbar­er Teil der Kul­tur. Und ohne Kul­tur gibt es keine Zukun­ft: Ohne kul­turelle Errun­gen­schaften wie Bib­lio­theken, The­ater, Oper und Museen wird sich jede Gesellschaft langsam, aber unver­mei­dlich zurück­bilden. Die schreck­lichen Resul­tate davon wer­den jede Zivil­i­sa­tion umbrin­gen, ein­fach töten. Wer das ver­ste­ht, pflegt die Kul­tur, die kul­turellen Wurzeln und die Tra­di­tion, denn er hat eine wichtige Vision für seine Kinder und Enkel. Wer heute denkt, dass Sport, grosse Unter­hal­tungsshows, Poli­tik und ökonomis­che Entwick­lun­gen wichtiger seien als kul­turelle Aktiv­itäten, irrt sich. Die klas­sis­che Musik begleit­et uns seit vie­len hun­dert Jahren, und ich kann mir eine Zukun­ft ohne sie nicht vorstellen. Und nicht nur für mich selb­st — das ist weniger wichtig, wir alle sind nur Gäste hier — es geht um unsere Kinder, Enkel, Urenkel. Die Zukun­ft liegt in unseren Hän­den und nur wir, die heute leben, sind vol­lkom­men ver­ant­wortlich für sie!

Ich bin völ­lig ein­ver­standen. Aber kön­nen Sie noch genauer erk­lären, was klas­sis­che Musik Ihrer Ansicht nach so wertvoll und wichtig macht?

Wir entwick­eln uns als Zivil­i­sa­tion nur, wenn wir miteinan­der kom­mu­nizieren. Und Musik ist eine Form von Kom­mu­nika­tion. Musik war immer ein Teil des öffentlichen Lebens, des Lebens ausser­halb des Fam­i­lienkreis­es. Bis vor weni­gen Jahrzehn­ten spielte das Musizieren auch inner­halb der Fam­i­lie eine wichtige Rolle. Im Gegen­satz zu früheren Jahrhun­derten haben wir heute unendlich viele Vari­anten, wie wir die Freizeit ver­brin­gen kön­nen. Das Fernse­hen zum Beispiel hat sehr viele Leute aus dem klas­sis­chen Musikund Opern­bere­ich weggenom­men. Wir kön­nen gemütlich zuhause bleiben, Bier trinken und auf dem Bild­schirm etwas betra­cht­en, ohne uns anzus­tren­gen, uns vor­bere­it­en und schön anziehen zu müssen. Dies ist mein­er Ansicht nach eine gefährliche Ten­denz. Die Men­schen schliessen sich durch die Massen­me­di­en mehr und mehr in einen engen Kreis ein. Das Fernse­hen saugt uns Aufmerk­samkeit ab, gibt jedoch nichts als Bild und Klang zurück. Die Beziehung ist ein­seit­ig. Wenn hinge­gen zwei Leute miteinan­der reden, sich in die Augen schauen, dann ist da ein Aus­tausch von Auren, von Ideen und Energien. Auch im Konz­ert gibt es einen solchen lebendi­gen Aus­tausch. Zudem geht es im klas­sis­chen Konz­ert auch um Med­i­ta­tion, manch­mal bewusst, manch­mal unbe­wusst. Heute sind wir uns immer mehr gewohnt, das Leben durch die Augen zu empfind­en. Wer sich mit klas­sis­ch­er Musik beschäftigt, konzen­tri­ert sich hinge­gen auf sein Gehör. Wer aktiv hört, hört nicht nur nach aussen, son­dern auch gegen innen. Er beg­ibt sich auf die Suche nach dem Ver­hält­nis zwis­chen dem Klang der Welt und der «eige­nen», «inneren» Musik. Auch darin liegt für mich der hohe Wert der klas­sis­chen Musik. Und schliesslich find­et das Medi­tieren in einem Konz­ert in der Gemein­schaft statt. Je mehr Leute zusam­men sind, desto stärk­er wirkt die Kraft ihrer Med­i­ta­tion.

Wie sind Sie per­sön­lich zur Musik gekom­men? Wie ist die Musik in Ihr Leben getreten?

Meine Mut­ter war eine klas­sis­che Bal­le­ri­na, sie hat auch im ersten Teil ihrer Schwanger­schaft mit mir noch getanzt. Als sie in den let­zten Monat­en dann nicht mehr sel­ber tanzen kon­nte, ging sie trotz­dem noch täglich ins The­ater. Ich habe also sehr viel der klas­sis­chen Bal­lettmusik bere­its vor mein­er Geburt gehört.

Meine ersten Leben­s­jahre haben wir dann in Polen ver­bracht. Dort war meine Mut­ter Tänz­erin im Opern­haus, mein Vater Pro­fes­sor an der Uni­ver­sität. Meine Mut­ter hat mich immer zu den Proben und Auf­führun­gen mitgenom­men. Sie hat mir erzählt, ich sei dabei sehr ruhig gewe­sen, hätte in der Wiege gewartet und Musik gehört. Nur ein­mal sei ich auf der Suche nach Mama direkt auf die Bühne gekrabbelt. Das war während ein­er Auf­führung von «Schwa­nensee»! Für das Pub­likum soll es ein gross­er Schock gewe­sen sein. An meine eigene Reak­tion erin­nere ich mich lei­der nicht…

Als wir zurück nach St. Peters­burg zogen, ergab es sich, dass mich ein Pro­fes­sor in der Grund­schule sin­gen hörte, und daraufhin emp­fahl, mich in die Chorschule zu schick­en. Es war eine der bei­den berühmtesten Chorschulen der dama­li­gen Sow­je­tu­nion. Sie nahm nur Knaben auf und man musste eine Auf­nah­meprü­fung beste­hen. Mor­gens hat­ten wir nor­malen Schu­lun­ter­richt, nach­mit­tags standen drei bis vier Stun­den Musik auf dem Pro­gramm. Täglich hat­ten wir Gehör­bil­dung, Musikgeschichte und so weit­er, alles während zehn Jahren. Ich habe in dieser Schule eine fan­tastis­che, ein­fach fan­tastis­che Musikaus­bil­dung erhal­ten. Damals habe ich das natür­lich nicht ver­standen, aber heute kann ich sagen, das war eine der besten Musikaus­bil­dun­gen, die man über­haupt bekom­men kon­nte. Übri­gens hat in dieser Schule auch mein Vorgänger beim BSO studiert, Dim­itri Kita­jenko, sowie viele weit­ere bekan­nte rus­sis­che Diri­gen­ten.

Wann haben Sie entsch­ieden, die Musik zu Ihrem Beruf zu machen?

Eigentlich war bere­its mit dem Ein­tritt in die Chorschule — also in meinem acht­en Leben­s­jahr — klar, dass es nur in diese Rich­tung weit­erge­hen würde. Obwohl ich nicht sagen kann, dass ich ein Wun­derkind gewe­sen wäre, das nur Klavier spie­len oder nur klas­sis­che Musik hören wollte. Oh nein, so war es nicht! Die Schule war streng, es gab viele Hausauf­gaben und diesen regelmäs­si­gen, weichen Druck. Und dann — langsam, langsam — begann die Musik für mich eine immer grössere Rolle zu spie­len.

Zuerst habe ich Chor­leitung und Kom­po­si­tion studiert, dann habe ich Rock­musik gespielt, dann Jazzmusik und par­al­lel dazu Alte Musik. Nach diesen Peri­o­den hab ich mich für das Dirigieren entsch­ieden. Und jet­zt habe ich das Gefühl, da zu sein, wo ich sein will. Ich glaube, es ist ein gross­es Glück, wenn dies jemand so sagen kann. Ich mache das, was mir gefällt, ich kann von dieser Aktiv­ität leben, ich sehe sehr viele inter­es­sante Leute, ich kann reisen. Mein Beruf öffnet mir Türen zu anderen Kul­turen.

Kön­nen Sie beschreiben, was Sie wahrnehmen und was in Ihnen vorge­ht während Sie ein Konz­ert dirigieren?

Zuallererst will ich mit der Musik immer etwas erzählen. Ich bitte dies auch die Musik­er zu tun und zu ver­ste­hen, dass Musik eine Sprache ist. Damit meine ich nicht konkrete Geschicht­en im Sinn von «Er ist hin­aus gegan­gen, es war schönes Wet­ter und die Bäume blüht­en». In der Musik geht es vielmehr um die Beschrei­bung emo­tionaler Zustände. In manchen Werken habe ich ein mehr oder weniger klares Pro­gramm dazu im Kopf, dieses möchte ich dem Pub­likum aber nicht mit­teilen, da jed­er Zuhör­er die Musik auf seine eigene Weise auf­fasst.

Und im physis­chen Sinn? Was machen Sie, was denken Sie während Sie dirigieren?

Wenn ich dirigiere…(Pause) Das ist sehr schwierig zu beschreiben. Was ich sagen kann — abso­lut ein­deutig — ist, dass ich nicht das zu hören ver­suche, was nahe bei den Ohren liegt, also die Hauptlin­ie oder Haupt­melodie, son­dern die ver­steck­ten, poly­pho­nen Stim­men. Ich konzen­triere mich auf diese Lin­ien, um zu kon­trol­lieren, ob sie hör­bar sind. Wenn nicht, muss ich das Orch­ester sofort dazu auf­fordern, die Bal­ance anzu­passen.

Die Haupt­melodie muss weniger dirigiert wer­den. Sie wird in den Proben vor­bere­it­et, die Phrasierung gepflegt. Im Konz­ert möchte ich die Musik­er ihre Melo­di­en ausspie­len lassen. Aber die Frage des Gle­ichgewichts, die bleibt zen­tral.

Meine Auf­gabe während des Konz­ertes ist es, die Bal­ance zwis­chen den ver­schiede­nen Instru­menten­grup­pen zu kon­trol­lieren und gle­ichzeit­ig die Musik­er zu inspiri­eren. Um einen Ver­gle­ich zu benutzen: Es ist wie bei einem Ball, der auf die Luft­säule eines Ven­ti­la­tors geset­zt wird. Da schwebt er nun, ist irgend­wie fix­iert und trotz­dem ständig in Bewe­gung. Diesen Ball kann man mit den Hän­den ein biss­chen bewe­gen, ihn auf der Luft­säule ver­schieben. Es ist ein Spiel, man kann sich damit vergnü­gen. Doch wenn man nicht genü­gend sen­si­bel ist, fällt der Ball sofort runter. Ähn­lich ver­hält es sich beim Dirigieren. Orch­ester­musik ist «coin­ci­den­tia oppos­i­to­rum». Etwas, das Organ­i­sa­tion und Sta­bil­ität braucht, gle­ichzeit­ig jedoch nicht ohne Frei­heit und Impro­vi­sa­tion existieren kann. — Ein «unsta­bil­er sta­bil­er Prozess» sozusagen, ein Prozess, der sta­bil ist, jedoch jeden Moment unsta­bil wer­den kön­nte. Es geht um die Kon­trolle über etwas, das wahnsin­nig… zer­brech­lich ist, lau­nisch auch, beständig wech­sel­nd, wun­der­schön und lebendig…

Wichtig ist, dass der Diri­gent immer kon­trol­liert und inspiri­ert. Inspiri­ert und kon­trol­liert. Herz und Kopf, Kopf und Herz. Diese Dual­ität muss unbe­d­ingt im Gle­ichgewicht sein. Und ein solch­es Gle­ichgewicht ist niemals sta­tisch, es bewegt sich immer, es vib­ri­ert.

Ich finde es ein­drück­lich zu sehen und zu hören, wie die Begeis­terung, mit der Sie Ihre Arbeit aus­führen, auf das Orch­ester über­greift.

Ich habe sel­ber nicht gehört, wie das Orch­ester früher gespielt hat. Bes­timmt haben die Musik­er und das Pub­likum immer schon gemein­same Höhep­unk­te erlebt! Ich geniesse das Musizieren mit dem BSO sehr. Es ist mein grösster Wun­sch, dass die Musik­er ihre Arbeit als eine Feier betra­cht­en, nicht als Dienst. Ich wün­sche mir, dass sie nach den Proben und Konz­erten beglückt heimge­hen, inspiri­ert und voll von pos­i­tiv­er Energie. Diese teilen sie dann wieder mit den Leuten, denen sie draussen begeg­nen. Das ist das Schön­ste. Diese Stim­mung möchte ich sowohl beim Orch­ester als auch beim Pub­likum weit­er pfle­gen und entwick­eln.

Ich wün­sche mir, dass die Poli­tik diesem Aspekt der kul­turellen Tra­di­tion wieder mehr Aufmerk­samkeit schenken würde. Wir brauchen kul­turell inter­essierte Men­schen mit guter Aus­bil­dung — und damit meine ich jet­zt nicht Aus­bil­dung im Sinne von Diplomen und Hochschu­la­b­schlüssen. Aus­bil­dung bedeutet für mich alles, was in unserem Leben mit uns passiert. Was haben wir gese­hen, mit wem und wie haben wir gesprochen, was haben wir gehört? Das ist die Aus­bil­dung, sie begin­nt bei der Geburt. Und die Schule ist nur eine von mehreren For­men dieser Aus­bil­dung.

Wie gesagt: Ich lade die Bern­er und Schweiz­er Poli­tik­er sehr her­zlich zu unseren Konz­erten ein. Ich wün­sche mir, dass sie das Orch­ester dieser Stadt mit Stolz und Freude betra­cht­en. Wir freuen uns sehr, wenn wir die Leute aus dem Bun­de­shaus ab und zu bei uns begrüssen dür­fen.

Bild: zVg.
ensuite, April 2006

Artikel online veröffentlicht: 16. August 2017