Von Andrea Baumann - Steile, verschlungene Strässchen führen vom Bahnhof Neuenburg ins Centre Dürrenmatt hinauf, das oberhalb des Neuenburgersees zuhause ist. Auf der Suche nach Ruhe und Konzentration, entdeckte Friedrich Dürrenmatt 1952 dieses Bijoux, wohin er sich bis zu seinem Tode zurückzog. Die Existenz des Centre Dürrenmatts ist Dürrenmatts zweiter Frau Charlotte Kerr zu verdanken. Acht Jahre hat sie dafür hart gekämpft. Sie hat das Grundstück und das erste Haus Dürrenmatt’s in Neuenburg zur Verfügung gestellt und hat sich beim Bund für das Projekt stark gemacht. Der Zweck des Centres ist zum einen Dürrenmatt als vielschichtigen Menschen und vielseitigen Künstler begegnen zu können, zum anderen das Bildwerk von Dürrenmatt zu sammeln, zu erhalten und zu verbreiten. Eine Bedingung von Charlotte Kerr war, dass Mario Botta das Zentrum gestaltet und sie hat es geschafft, ihn für diese Idee zu begeistern, der sich sehr mit Dürrenmatt verbunden fühlte und seine Kreativität respektierte.
Mario Botta gelang es, dem Anbau an das Wohnhaus den Geist Dürrenmatts einzuhauchen. Er legte den Ausstellungsraum unterirdisch an mit genügend Lichtquellen und Luken nach aussen, symbolisch für den Kunstschaffenden, der es liebte in der Tiefe der menschlichen Seele zu schürfen. Emporsteigend aus der Tiefe des Bauches gelangt der Besucher auf die grossflächige Panoramaterrasse, die einen umwerfenden Blick über den Neuenburgersee und die Alpen freigibt. Mario Botta übernahm kaum Spuren des ehemaligen Ateliers, ausser einer Collage. Er ist der Meinung: «Es gibt nichts deprimierenderes, als ein Atelier, wo die Hauptperson fehlt». Ein wichtiges Anliegen von Charlotte Kerr war, dass die Zeichnungen und Gemälde von Dürrenmatt einen würdigen Ausstellungsrahmen erhalten und dem Publikum zugänglich sind, die es auch wert sind, entdeckt zu werden. Denn das Zeichnen und Malen war ihm fast genauso wichtig wie das Schreiben. «Das Schreiben ist meine Profession, das Malen hingegen meine Passion».
So entdeckt man im Centre einen Autor, der seine bildreiche Sprache eindrücklich auf Papier und Leinwand gebracht hat sowie einen Maler und Zeichner, der in seinen detailverliebten Bildern ganze Geschichten erzählen kann. Wie sehr das schriftstellerische mit dem bildnerischen Schaffen zusammenhängt, wird durch ausgestellte Manuskripte, Textausschnitte und gesprochene Texte vom Tonband dokumentiert.
Das Centre soll auch ein Ort der Forschung werden. Den Interessierten steht nebst dem Bildwerk auch die Privatbibliothek von Friedrich Dürrenmatt, die 4000 Titel umfasst, für Forschungszwecke zur Verfügung. Nebst der Ausstellung werden Diskussionen, Konzerte, Lesungen, Seminare, Kolliquien und Debatten durchgeführt. Zurzeit ist eine Werkschau von Dieter Roth zu entdecken. Dieter Roth (1930–1998) wurde in Hannover als Sohn eines Schweizers und einer Deutschen geboren. Wie Dürrenmatt hat Roth seine ersten künstlerischen Inspirationen in Bern gefunden. Er war gleichzeitig Maler, Zeichner, Plastiker, Schmuck- und Möbelentwerfer. Er schuf ein innovatives, richtungsweisendes Werk, das auf einmalige Weise Kunst und Leben verbindet. Seine Arbeit ist unverwechselbar. So bewahrte er zum Beispiel während mehren Jahren Spuren seiner materiellen Existenz auf: Zigaretten, Essresten, Fahrkarten, etc. und konservierte dieses Material in hunderten von Ordnern. Die Ausstellung dauert noch bis zum 26. Oktober 2003.
Ab 22. Mai 2003 kann man den ausserordentliche Künstler auch ab Leinwand kennenlernen. Edith Jud hat ein eindrückliches Porträt aufgezeichnet, wobei der Film als innere und äussere Reise konzipiert wurde. Er zeigt die radikale Haltung Roths sich selbst und seiner Arbeit gegenüber und hinterfragt so auch: was ist Kunst und was kann Kunst auch sein.
Bild: zVg.
ensuite, Juni 2003