Von Dr. Regula Staempfli - Volker Weidermann eröffnet die Frankfurter Buchmesse und beginnt mit Robert Menasse, dem österreichischen Sprachkünstler, Essayist, Einmischer, politisch denkenden Mensch mit Hang zum Schwermut, den er mit Tragigkkomik einigermassen in Schach hält. “Die Hauptstadt” gewinnt den Deutschen Buchpreis 2017. “Ihn hat es gerührt, uns hat es geschüttelt” schreibt die FAZ dazu.
“Die Hauptstadt” wird von mehreren Rezensenten – Frauen haben Menasses Buch bisher nicht besprechen dürfen — mit Musils “Mann ohne Eigenschaften” verglichen. Der Roman ist ein Heldenwerk für die europäische Bürokratie, leicht, voller Witz und Aufklärung. Er beginnt mit den Befreiungsfeierlichkeiten für das Vernichtungslager Auschwitz. Menasse geht es wie anderen Menschen, die von der Shoa nicht als Schindlers Liste oder Hollywoodmetapher für das Böse kennen, sondern darum wissen, dass dies nie hätte geschehen dürfen und dass die Folgen dieser Vernichtungskultur in vielem noch präsent sind.
Der sehr sympathische, für einen Intellektuellen fast zu sympathische Menasse erzählt auf dem Blauen Sofa der Buchmesse von seiner real erlebten Reise als Delegationsmitglied der Europäischen Kommission für die Auschwitz-Befreiungsfeier. Der 27. Januar ist gesperrt für Touristen und macht Würdenträger, Tross, Delegationen, Staatschefs etc. Platz. Menasse kriegt einen Batch. Vorne steht drauf: “Ehrengast von Auschwitz.” Auf der Rückseite: “Bitte verlieren Sie diesen Batch nicht, Sie haben sonst kein Recht, sich im Lager aufzuhalten.” Tragikkomischer geht es nicht.
Als Europäerin der 1990er Jahre, die wie kein anderer Schweizer über 20 Jahre lang die EU-Institutionen mitgeprägt und erlebt hat, die Europa sogar drei Kinder geschenkt hat, die alle in die “Europäische Schule” gehen, der Kaderschmiede für künftige Eurokraten, weiss ich, dass “Die Hauptstadt” ein enorm wichtiges Buch für die deutschsprachige Öffentlichkeit ist und alle Preise verdient. Gleichzeitig verkennt der Roman die grosse Macht, die Politik, die Ideologien, die die Menschen in Brüssel antreiben. Menasse erzählt lustig, interessant, aufschlussreich. Er ist jedoch kein Albert Cohen. Leider. Furchtbarerweise. Denn Albert Cohen hätte ihm Vorbild für seinen EU-Roman sein müssen. Im “Die Schöne des Herrn” skizziert der ehemalige Funktionär des Völkerbunds in einer der umwerfend erotischen Liebesgeschichten gleichzeitig das Europa seiner Zeit, das Funktionieren und das Scheitern des Völkerbundes wie auch die weiblichen Sehnsüchte, Orgasmen, Fantasien und der Verlust von Liebe. So müsste ein Roman über die EU aussehen oder könnte es sein, dass es solche Leidenschaften 2017 gar nicht mehr gibt? Weil die Mehrheit nicht nur die der Funktionäre, sondern auch der Schriftsteller homogenisiert, pasteurisiert und sterilisiert ihre Jobs perfekt erledigen, ohne aber auch nur einen Funken Leidenschaft, Wut oder gar Utopie in sich zu spüren?
Robert Menasse, Die Hauptstadt, Suhrkamp Berlin 2017