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Das Bild und das Wort

Von Mar­cel Pinon - Unsere Welt, schon bald der Elek­tron­ik aus­geliefert, scheint von Bildern und Worten in immer­währen­der Bewe­gung beset­zt, deren Kraft und tägliche All­ge­gen­wart (die Last der Worte, der Schock der Fotos) den vergänglichen Charak­ter oder die allzu oft kom­merzielle Botschaft nicht ver­wis­chen kön­nen. Wir soll­ten wed­er den Platz der Worte und der Bilder ver­nach­läs­si­gen bei der Etablierung unser­er sen­si­blen Beziehun­gen für die Ken­nt­nis des Anderen; des Uni­ver­sums oder uns selb­st; noch die Wichtigkeit dieser zwei spez­i­fis­chen Charak­ter­is­ti­ka in der Entwick­lung der Men­schheit.

Das men­schliche Wesen kön­nte definiert wer­den durch seine Fähigkeit Bilder her­vorzubrin­gen und Worte durch eine artikulierte Sprache auszus­toßen. Die Erfind­ung des Werkzeugs und die Zäh­mung des Feuers kön­nen nur das Ergeb­nis ein­er Kette von konkreten Erfahrun­gen sein, um mit ein­er fast ani­malis­chen Fähigkeit die Kräfte der Natur zu bändi­gen.

Es scheint nüt­zlich, ja sog­ar notwendig, dem Bild und dem Wort ihren Sinn oder ihre ursprüngliche Funk­tion zurück­zugeben, die in der Erschei­n­ung der Kun­st, der Spir­i­tu­al­ität und der Wis­senschaft entschei­dend ist. Gewiß ging die Rede dem Bild voraus, unter­stützt durch eine kör­per­liche Fähigkeit und dank der laut­ma­lerischen Töne, die nach und nach in Worten Form annah­men und in ein mehr und mehr ratio­nales Wort­sys­tem einge­fügt wur­den. Das lateinis­che Wort „mut­tus“ bedeutet auch mur­ren. Der Schrei und der Aus­ruf sind wohl dem Wort voraus gegan­gen, das — wie übri­gens später auch das Bild — im Blick, der Gri­masse, der Hal­tung und in der Geste grün­dete (vielle­icht auch in der Berührung und der Liebko­sung). Noch heute hängt das Ver­ständ­nis des Wortes häu­fig von seinem hör- und sehbaren Zusam­men­hang ab. Dieses Zusam­men­spiel von Ton und Rhyth­mus läßt sich zu allen Zeit­en in der Poe­sie, im Gesang und im Tanz erleben.

Ein viel größeres Geheim­nis umhüllt die Erschei­n­ung des Bildes: der Wider­schein, der Schat­ten, eine Spur oder eine Prä­gung. Die schweigende Bewe­gungslosigkeit des Kadav­ers kon­nten einen Prozeß ein­leit­en, der zum Auf­tauchen der neuen Fähigkeit führte, die Umwelt mit einem wieder erkennbaren Zeichen zu verse­hen: Bild, Repräsen­ta­tion, Wieder­gabe, Entwurf, Marke, Bezugspunkt; später Alle­gorie, Emblem, Sym­bol, Code — siehe Fotografie, Kino, Holo­gramm…

Eines Tages stellt sich das Bild in den Dienst des Wortes, um die Schrift zu bilden und erlaubt dem Men­schen in die Geschichte einzutreten.

Die Schrift — und die Schriften — bericht­en von Rival­ität zwis­chen dem Bild und der Rede, kaum ist ihre Verbindung in den Dienst der Beze­ich­nung getreten! (Über die Frage des Ursprungs der Beziehung zum Tran­szen­den­ten, der Teilung zwis­chen dem Men­sch­sein und dem Göt­tlichen) Von Gil­gamesch zu Mohammed haben sich uner­schöpfliche Quellen the­ol­o­gis­ch­er Stre­it­ere­in vor­bere­it­et. „Men­schen­gott“ oder „Gottmen­sch“? Bilder und Worte ein­mal im Dienst erhofften Ruhmes, ein ander­mal im Dien­ste der uner­bit­tlichen Ver­bote.

Aber wieviel Wun­der­bares — Mon­u­mente der Men­schheit — wie viele oft grundle­gen­den oder erhabenen Werke sind noch erhal­ten durch die Magie des Bildes oder des Wortes, das in den Stein, den Ton, das Holz oder auf das Papi­er geze­ich­net wur­den. In diesem neuen Jahrtausend sind Wort und Bild durch Slo­gans und Logos skru­pel­los entwertet, in den Rang eines raf­finierten Köders für fügsame Kon­sumenten degradiert.

Führwahr, mehr denn je kön­nen das Wort und vor allem das Bild, das Vielle­icht uni­verseller und absoluter ist, den Zugang zum Wesentlichen des Men­schen wieder öff­nen. Dort, wo Schön­heit und Weisheit sich offen­baren, bestätigt die Kun­st die sym­bol­is­che und mit­tel­nde Kraft des Bildes. Das Wort, das uns stets zu ent­gleit­en dro­ht, begleit­et uns den­noch auf diesem Weg zu uns selb­st und entzieht uns vielle­icht ein wenig dem beque­men Schutz endgültiger Mei­n­un­gen.

Marcel Pinon

«Passé Con­seiller Fédéral de la Grande Loge de France», ist Chemik­er und Alchemist. Er gilt als aus­geze­ich­neter Ken­ner der Sym­bo­l­ik.

Bild: Wingdings, Wikipedia
ensuite, Mai 2004

Artikel online veröffentlicht: 10. Juni 2017