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Das Salz der Kreativität

Von Lukas Vogel­sang - Ober­bay­ern. Ich wäre wohl nie von mir aus hier gelandet. Der Kurort Bad-Reichen­hall (etwas gröss­er als der Vorort Oster­mundi­gen bei Bern) lud zur Pressereise ein, und lock­te mit dem «1. Kreativ-Woch­enende» und hochkaräti­gen Vorträ­gen zum The­ma «Kreativ­ität». Vier Kur-Tage «Kreativ­ität» an einem Stück verän­dern Men­schen wohl nach­haltig. Ich ging mit Erwartun­gen hin und kam ver­wan­delt zurück. Allerd­ings glaube ich, dass dieser Wand­lung ein wahnsin­niges Chaos zu Grunde liegt. Aber der Rei­he nach:

Bad-Reichen­hall liegt 15 Autominuten von Salzburg ent­fer­nt, bere­its in Deutsch­land, in Ober­bay­ern. Ein Plateau, umringt von Bergen, die einige aus­gedehnte Wan­derun­gen ver­sprechen. Der Name «Bad-Reichen­hall» ist mit dem Ort ver­wurzelt. Da wäre mal das Bad, aber viel wichtiger ist das «Hall», was «Salz» bedeutet, und das «Reich» kommt schlicht vom Reich­tum, welch­er in diesem heute beschaulichen 17 000-Ein­wohn­er-Städtchen einst vorhan­den war. Salz war ein­mal wichtiger als Gold: Die Gegend ist seit unge­fähr 1800 v. Chr. belebt, und das Salz hat dem Ort über­haupt eine Bedeu­tung und seine Exis­tenz gegeben: Bad-Reichen­hall liegt am Anfang der alten Salzs­trasse, welche über Wasser­burg, München, Fürsten­feld­bruck und Augs­burg in den West­en ver­läuft. Ver­ständlich, dass man sich des öfteren auch im Stre­it mit den Nach­baren befand. Salz war begehrt und die Konkur­renz schlief nicht. Manch­mal fehlte den Her­ren das Geld für nötige Sanierun­gen, um mehr Salz zu pro­duzieren und konkur­ren­zfähig bleiben zu kön­nen, oder aber das halbe Dorf bran­nte weg (1834). Doch man stand wieder auf und erkämpfte sich den Ort zurück. Die indus­trielle Rev­o­lu­tion brachte schliesslich einen stat­tlichen, kaiser­lichen Kur­garten, gebaut 1900 von Max Littmann im neo­barock­en Stil, und Bad-Reichen­hall erblühte. Unter­dessen offen­bart der Ort nicht mehr viel Sicht­bares aus der alten Geschichte — dafür umso mehr Zeitzeu­gen architek­tonis­ch­er Unfälle der Nachkriegszeit.

Die roman­tis­chste und wohl finanziell inter­es­san­teste Zeit von Bad-Reichen­hall wurde 1846 mit dem Bau der Sole- und Molkenku­ranstalt «Achsel­mannstein» gelegt. Die eher noble Gesellschaft tum­melte sich von da an in den Heil­bädern und Parks, und brachte dem Ort den nöti­gen Sta­tus. Selb­st die Weltkriege und die Weltwirtschaft­skrise über­lebte das Dorf. Von jet­zt an füt­terten die Krankenkassen Bad-Reichen­hall durch ver­schriebene Kuraufen­thalte, die Leute kamen, und nie­mand musste die Kund­schaft bewer­ben um sie nach Bad-Reichen­hall zu brin­gen – entsprechend unmo­tiviert verkam der Ort wieder. Die Kurgäste kamen von selb­st – bis die Gesund­heit­sre­for­men 1997 dem Men­schen­fluss Ein­halt geboten. Die staatliche Kurver­wal­tung wurde aufgelöst und die Kur-GmbH Bad-Reichen­hal­l/Bayrisch Gmain über­nahm die Geschäfte. Jet­zt wurde es betrieb­swirtschaftlich und es war Schluss mit der Langeweile, denn das Salz alleine kann den Ort nicht mehr ernähren. Sei­ther ver­sucht man sich touris­tisch und mit allen möglichen Kur-Ange­boten zu posi­tion­ieren. Und das gelingt ganz gut – einzig das Bewusst­sein für ein gemein­sames Bad-Reichen­hall sucht man noch verge­blich. Aber deswe­gen reist man auch an diesen Ort, um dem Geheim­nis auf die Spur zu kom­men.

«Dur­chat­men und erholen im Alpen­kli­ma» – so bewirbt sich das Alpendör­fchen, welch­es mit 473 Metern über Meer tiefer liegt als Bern (542 M. ü. M.). Die Atemther­a­pie liegt vor allem einem sen­sa­tionellen 163 Meter lan­gen und 25 Meter hohen Gradier­haus-Bau zu Grunde: Die Sole (Salzwass­er) rieselt über einen Hochkanal über Schwarz­dornzweige (Schle­he), und dabei ver­dun­stet etwas Wass­er, was den Salzge­halt erhöht und die Luft salzig befeuchtet. Das Bauw­erk ste­ht im kaiser­lichen Kur­garten, wo auch ein heute nicht mehr sehr schön­er Musik­pavil­lon ste­ht: Kur­musik. Und schon bringt der Ort Verblüf­fend­es zu Tage: Die Bad Reichen­haller Phil­har­monie, ein rund 50-köp­figes und ort­seigenes Orch­ester, spielt pro Jahr zwis­chen 350 und 370 Konz­erte, und nen­nt ein immenses Reper­toire sein Eigen. Allerd­ings, und das soll keine Abw­er­tung sein, hat Kur­musik eine stark unter­hal­tende Funk­tion und muss vor allem den Kurgästen gefall­en. Seit hun­derten von Jahren war Musik das Rital­in der Kur­pa­tien­ten. Die Bevölkerung von Bad-Reichen­hall arbeit­et sel­ber in der Touris­mus­branche und über­lebt wegen den Gästen. Deswe­gen find­en wir die gemein­same Seele von Bad-Reichen­hall nicht in der Phil­har­monie.

Auf dem Predigt­stuhl, mit der – so wird sie bewor­ben – ältesten Gondel­bahn der Welt (seit dem 1. Juli 1928 in Betrieb, und das tra­gende Draht­seil ist eben­so alt!) sind wir auf 1614 Metern dem Him­mel etwas näher. Hier find­en wir eine Bad-Reichen­haller-Seele in einem Unternehmer, der mit Mil­lio­nen und Herzblut das Hotel­restau­rant wieder zu neuem Glanz ren­ovieren will. Und von da oben haben wir den grossen Überblick auf das Bayrische Oster­mundi­ger-Alpen­dorf und eine faszinierende Weit­sicht.

Der Hote­lier vom Hotel Son­nen­bichl – ein sehr sym­pa­this­ches, unschein­bares Hotel und mein Haup­tquarti­er für die vier Tage – erzählt mir einige Geschicht­en über den Ort. Erst jet­zt beginne ich einige Dinge zu ver­ste­hen, die mir zuvor eige­nar­tig erschienen. Und als er mir seine selb­st­ge­baute «Heim-Gradier­an­lage» im hoteleige­nen Well­ness­bere­ich zeigt, die nach seinen Angaben die wohl einzige weltweit sei, weiss ich, dass der Ort noch viele unent­deck­te Geheimnisse in sich birgt. Acht­samkeit ist geboten, und je länger ich rum­schnüf­fle, umso gemütlich­er wird es hier. Bay­ern packt mich, irgend­wie. Und als das 20-jährige und das 50-jährige Ser­vi­ceper­son­al (im Dirndl an der Arbeit) ein­stim­mig erk­lären, dass sie ihre Dirndl lieben und auch damit am Woch­enende in den Aus­gang gehen, mache ich im Stillen den Oster­mundi­gerIn­nen einen Vor­wurf, dass diese nicht mehr Heimat­stolz an den Tag leg­en kön­nen.

Und so spanne ich langsam den Bogen zu der Kun­stakademie, die neben dem wohl sehenswertesten Ort, der alten Saline sitzt. Die alten Gebäude­teile auf dem Are­al sind sehr gepflegt restau­ri­ert und umfunk­tion­iert wor­den. Neben Büros und Arzt­prax­en gibt es da sog­ar einen grossen Boes­ner-Kun­st­ma­te­ri­al­shop, und ein mod­ernes Restau­rant mit sehr guter, mod­ern­er Küche. Es ist ein wenig irri­tierend, dass hier alles gepflegter daherkommt als im kaiser­lichen Kur­garten. Das mag dur­chaus am Kun­st-Sinn liegen, aber sich­er auch an den Men­schen, die hier ihre Arbeit sichtlich ern­ster nehmen. Und die zwei je 15 Ton­nen schw­eren Wasser­räder der alten Saline, die bei jed­er Umdrehung eine Glocke erklin­gen lassen, brin­gen dieses Bewusst­sein rhyth­misch mit Salz, Zeit und Geschichte in Verbindung. Und wieder werde ich über­rascht: Jede Befürch­tung, bei der Kun­stakademie kön­nte es sich um einen Bas­tel-Hob­byvere­in oder ein Ferien­lager für gelang­weilte Kurgäste han­deln, ist falsch. Kun­st ist hier wirk­liche und ern­sthafte Kun­st, kein Vergnü­gen. Über 2000 Kursteil­nehmer besuchen hier pro Jahr Kurse, die von unge­fähr 150 Kün­st­lerIn­nen aus­gerichtet wer­den. Ein Grund mehr, in Bad-Reichen­hall ein weit­eres Mal tief Luft zu holen.

Die Kreativ-Tagung

Der eigentliche Grund mein­er Pressereise war natür­lich das 1. Kreativ-Woch­enende mit dem Mot­to: «Zukun­ftspo­ten­tial Kreativ­ität». Es war als Gipfel­tr­e­f­fen von Trend­forscherIn­nen, PhilosophIn­nen, Kün­st­lerIn­nen, Musik­erIn­nen, Psy­chologIn­nen und Ökonomen gedacht. Und die waren da: Anja Kirig, Trend­forscherin am Zukun­ftsin­sti­tut München mit dem The­ma: «Pow­er of Places – Pow­er of Peo­ple». Sie ging vor allem pos­i­tiv auf die neue, dig­i­tale Kreativ­ität ein und zeigte über­raschende Kreativideen auf, welche aus Gross­mut­ters-Handw­erk Tren­dideen entste­hen lassen. Prof. Dr. Karl-Heinz Brod­beck, Philosoph und Pro­fes­sor für VWL, Sta­tis­tik und Kreativ­ität­stech­niken von der FH Würzburg-Schwe­in­furt referierte über «Musik als Kom­mu­nika­tion», und kam in seinem anek­doten­re­ichen und tief­greifend­en Refer­at über wun­der­same Wege zur «Stille», so berührend und logisch, dass es unter die Haut ging. Prof. Dr. Hol­ger Noltze, Autor und Jour­nal­ist, Pro­fes­sor für Musik und Medi­en an der Uni­ver­sität Dort­mund (wurde schon öfters im ensuite zitiert) sprach über die «Ent­fes­selung des Denkens durch Musik» und brachte Beispiele, wie Kom­pon­is­ten uns manch­mal wil­lentlich und lustvoll ver­wirren, damit wir in unserem Denkprozess stolpern. Prof. Dr. Rain­er Holm-Hadul­la, Kreativ­itäts­forsch­er und Pro­fes­sor für Psy­chother­a­peutis­che Medi­zin in Hei­del­berg, erzählte über «Die vie­len Gesichter der Kreativ­ität. Neuigkeit­en aus der Kreativ­itäts­forschung». Prof. Dr. Welsch, Philosoph, em. Pro­fes­sor für Philoso­phie, Uni­ver­sität Jena, referierte über «Kreativ­ität und Kontin­genz – Warum Zufälle uns voran­brin­gen». Prof. Herib­ert C. Otter­bach, Kün­stler, Pro­fes­sor für Malerei und Grafik, Hochschule für Grafik und Buchkun­st Leipzig meinte: «Kann man Kreativ­ität lehren?» – Prof. Dr. Michael Hut­ter, Ökonom und Sozi­ologe, Leit­er der Forschungsabteilung «Kul­turelle Quellen von Neuheit­en» am Wis­senschaft­szen­trum für Sozial­forschung Berlin mit Forschung­spro­fes­sur zu «Kul­tur, Wis­sen, Inno­va­tion» an der TU Berlin, erläuterte die «Kul­turtech­niken für das Find­en von Neuem». Und zum Schluss kam noch Prof. Dr. Ino Augs­berg, Pro­fes­sor für Recht­sphiloso­phie, Uni­ver­sität zu Kiel, mit seinem Vor­trag: «Penser, c’est trou­ver la bonne cita­tion. Wis­senschaftliche und kün­st­lerische Kreativ­ität zwis­chen roman­tis­chen Geniekonzept und Pla­giatsver­dacht.»

Wenn man diese Namen liest, erhält man einen ersten Ein­druck, wie intellek­tuell es in Bad-Reichen­hall abging. Die Refer­ate waren auf zweiein­halb Tage verteilt, durch ein auflock­ern­des Iron­man-Marathon-Rah­men­pro­gramm ver­bun­den – mein Kopf kocht noch heute. Ich werde in den näch­sten Monat­en immer wieder Frag­mente aus diesen Vorträ­gen hier im Mag­a­zin ein­fliessen lassen. Das Mate­r­i­al, welch­es sich ansam­melte, sucht seines­gle­ichen in dieser Bre­ite und Tiefe. Und so über­raschte Bad-Reichen­hall schon wieder, dies­mal mit ein­er uner­wartet geball­ten Ladung an Wis­sen. Wenn diese Stadt diese The­men in dieser Qual­ität weit­erzieht, wird das Salz bald zur Neben­sache.

Aber da gibt es noch ein Nebengeräusch: Die Tagung war die erste ihrer Art, und das kon­nte man haupt­säch­lich daran fest­stellen, dass rund 30 Jour­nal­istIn­nen und die hochkaräti­gen Ref­er­entIn­nen den Weg in die «Alpen­stadt» gefun­den hat­ten. Fast gän­zlich absent war – und dies ungerecht­fer­tigt – das Pub­likum. So wurde für Jour­nal­istIn­nen über Kreativ­ität und Funk­tion­al­ität referiert, Sinn und Unsinn erläutert – und es ent­stand irgend­wie eine «Divi­sion durch Null». Wir tru­gen dies alle mit Fas­sung und disku­tierten wack­er mit. Die Fachqual­ität war unbe­strit­ten her­vor­ra­gend, bere­ich­ernd und intel­li­gent. Zwar ver­mis­ste man zum Schluss der Tagung eine Art Doku­men­ta­tion oder eine Essenz – doch das war vielle­icht ein­fach ein zu from­mer Wun­sch mein­er­seits.

Und was wollte diese Kreativ-Tagung eigentlich bezweck­en? Ging es darum, ein touris­tis­ches Zeichen zu set­zen und den Stan­dort zu bewer­ben? Ging es darum, die Kun­stakademie mit Ruhm zu bedeck­en? Oder ging es darum, ein aus­giebiges Plä­doy­er für die Kun­st, die Kreativ­ität zu man­i­festieren, damit sich die abwe­sende Poli­tik für das Kreativ-Invest­ment überzeu­gen kon­nte? Lehrre­ich und ausseror­dentlich span­nend war es alle­mal. Aber man kon­nte spüren, dass die Kreativ­ität in der Tagungs­gestal­tung etwas unko­or­diniert und in ver­schiedene Rich­tun­gen ver­lief. Den Vogel abgeschossen hat­te der Ober­bürg­er­meis­ter, der respek­t­los eine 5‑Minuten-Null-Rede, frisch aus der Dusche, vor der ver­sam­melten Jour­nal­is­ten­schar hielt und danach auf Nim­mer­wieder­se­hen ver­schwand. Hier fand ich defin­i­tiv keine Bad-Reichen­haller-Seele. Und als bere­its am zweit­en Tag von der «näch­sten Kreativ-Tagung» die Rede war, hat­te ich etwas Zweifel.

Kurz vor der Abreise, ich war irgend­wie unbe­friedigt, weil ich aus der Sache nicht schlau wurde, alles etwas chao­tisch und wahnsin­nig kom­plex erschien. Auf der Suche nach ein paar guten Fotos stieg ich einen unbe­deu­ten­den Weg aufwärts, aus dem Dorf weg, mit der Hoff­nung, mehr Überblick von oben zu erhal­ten. Nach kurzem Auf­stieg durch ein dicht­es Grün öffnete sich vor mir ein Anblick auf eine strahlende Wiese und das umliegende Gebirge. Damit hat­te ich nicht im Ger­ing­sten gerech­net. Es war, als hätte ich Bad-Reichen­hall den Deck­el geöffnet. Jet­zt wusste ich, dass das unschein­bare Städtchen wesentlich mehr zu bieten hat­te, als es einst preis­geben wollte. Erst jet­zt ver­stand ich, auf was für eine Reise ich mich eigentlich begeben hat­te. Bad-Reichen­hall ist reich an Salz der Kreativ­ität.

www.bad-reichenhall.com
www.kunstakademie-reichenhall.de
www.predigtstuhlbahn.de
www.sonnenbichlhotel.de

Artikel online veröffentlicht: 22. Juni 2016