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Das Tanztheater — Die Moderne im Abseits

Von Kristi­na Sol­dati - Die The­ater vor dem Drit­ten Reich war­ben um den Mann aus der avant­gardis­tis­chen freien Szene: Kurt Jooss. Nach dem Drit­ten Reich, aus dem Exil heimkehrend, darf er wieder anknüpfen — an sein­er pri­vat­en Schule. Mit verklemmtem Lächeln empfängt man auch die Heimkehrer Bertolt Brecht, Erwin Pis­ca­tor und Fritz Kort­ner. Man begeg­net den als Linke dif­famierten mis­strauisch und kein­er von ihnen bekommt bis in die 60er eine bedeu­tende Stelle an bun­des­deutschen The­atern. Kurt Jooss nutzt seine Schule zum Auf­bau des Folk­wang-Tanzthe­aters, so dass er 1951 sein mit­tler­weile welt­bekan­ntes Stück «Der grüne Tisch» erst­mals auch in Deutsch­land herumzeigen kann. Wir erin­nern uns, in diesem Tanz­dra­ma bricht an einem lan­gen Tisch mit viel Frack die Kriegse­uphorie aus, die einen lan­gen Todesreigen nach sich zieht und let­ztlich in der Anfangsszene mün­det. Drei Monate später tanzt Mari­ka Rökk auf diesem Tisch. Was ist passiert? «Sen­sa­tion in San Remo» ist ein Film, der wie viele andere die Mühen der Nachkriegs­jahre vergessen lassen soll und die schö­nen Beine der erfol­gre­ichen Operetten­sän­gerin Mari­ka Rökk zeigt — aber eben auf dem besagten Tisch. Mit näm­lichem Frack und expres­sion­is­tis­ch­er Gestik. Ein Gericht­sentscheid ver­fügt, 52 m sind wegen Pla­giats aus dem Film auszuschnei­den.

Doch der respek­t­lose Umgang mit dem mod­er­nen Tanz ist damit nicht aus­ge­merzt, die Unter­hal­tungskul­tur hat auch in den Insti­tu­tio­nen ihren Siegeszug ange­treten. Wen wundert’s? Der deutsche Bürg­er emsig und arbeit­sam es gilt, ein Land wie Phoenix aus der Asche steigen zu lassen! — sucht die Bestä­ti­gung. Bis Ende der 50er schafft es Deutsch­land, sich zur zweit­grössten Wirtschaft­sna­tion der Welt nach den USA emporzuschuften. Und die Tanzkun­st leis­tet dazu ihren affir­ma­tiv­en Beitrag. Die Exzen­trik und Indi­vid­u­al­ität der Aus­druck­stänz­er würde die tätige Auf­bruch­stim­mung ein­er sich neu formieren­den Gesellschaft nur stören. In dieser will jed­er nur unauf­fäl­lig bleiben, in jed­er Beziehung, auch in der des Geschmacks.

 Ruf nach klas­sis­chem Bal­lett Ein (noch heute) renom­miert­er deutsch­er Tanzkri­tik­er kün­det 1957 vom «Ruf nach dem von allen Über­lagerun­gen des Mod­er­nen Tanzes gere­inigten klas­sis­chen Bal­lett». Denn seit Bal­anchines Europa­tournee im Jahre 1952 weiss man in Deutsch­land plöt­zlich, was man ver­passte hat. Das tech­nisch auf Hochglanz gebrachte New York City Bal­let präsen­tiert Abstrak­tes, ein Novum made by Bal­an­chine. Es trifft auf Begeis­terung. Sind die vielfachen Form­spiele schon Moder­nität genug, um damit den Bedürfnis­sen nach Fortschrit­tlichkeit zu genü­gen? Oder ist es vielmehr der Kraft und Schön­heit ausstrahlende Stil gepaart mit tech­nis­ch­er Hochleis­tung, der eine leis­tungssen­si­ble Nation beein­druckt? Eine wahre Nachah­mungswut packt Deutsch­land. Wie tre­f­flich, kön­nen nun die Städte auch auf kün­st­lerischem Gebi­et miteinan­der wet­teifern. Der kom­pet­i­tive Ans­porn befähigt zu Höhen­flü­gen, wer weiss das bess­er als die Begrün­der der Wohl­stands­ge­sellschaft. Die Grösse der Com­panie ste­ht im Ver­hält­nis zu Grösse und Frische des Bal­let­tabends (über erholte Spiel­er auf der Ersatzbank) und der Anzahl der Pirou­et­ten. Das erzielte Renom­mee poten­ziert wiederum den Erfolg wie ein Zins­eszins: es wirkt wie ein Mag­net auf die besten Tänz­er weltweit. Und im Abglanz des Ruhmes aalen sich die (grösseren) Städte. Der durch Diszi­plin und strenge Ord­nung erwor­bene Anschein der Unbeschw­ertheit in der neok­las­sis­chen Dynamik ist zudem eine Ästhetik, die den Tugen­den im Wieder­auf­bau ein­er zer­störten Welt entspricht.

Das Fieber des Bal­letts ergreift aber nicht nur Deutsch­land. Zürich, Basel und Genf suchen eben­falls Anschluss. Nach­dem Zürich 1950 «Schwa­nensee», «Dorn­röschen» und «Les Syl­phides» aus Lon­don präsen­tiert bekam, kann die Stadt schon sechs Jahre später ihre eigene «Schwanensee»Version auf­führen. Basel gar schon nach fünf Jahren. In Genf wird 1960 Bal­an­chine kün­st­lerisch­er Berater und die abstrak­te Ära kann dort begin­nen. Die kleineren Häuser dage­gen ver­leug­nen (vor­erst) nicht die flächen­deck­end wirk­samen Ein­flüsse des mod­er­nen Tanzes der 20er. Oder sie kön­nen sich eine Leug­nung nicht leis­ten. St. Gallen hält bis 1957 an sein­er Ensem­bleleitung aus der Paluc­ca/Jooss-Tra­di­tion fest, Bern bis 1956 an der Paluc­ca-Geschul­ten und Wig­man-Erprobten Hilde Bau­man, der Lebens­ge­fährtin Har­ald Kreutzbergs, des Stars des Aus­druck­stanzes.

The­ater­tanz ver­sus Tanzthe­ater Bal­lett und freier, mit­tler­weile <mod­ern­er> Tanz kämpften schon immer um ihren Ein­fluss­bere­ich. Kurt Jooss bemühte sich bere­its Ende der 20er auf einem Tänz­erkongress, den oft strate­gis­chen Kampf in eine inhaltliche und kün­st­lerische Debat­te zu wan­deln. Er unter­nahm eine Begriff­sklärung und endete mit einem kon­struk­tiv­en Vorschlag. Für ihn gab es damals am The­ater zwei Extreme: Der ‚absolute Tanz’, der auf rein tänz­erische Kom­po­si­tion­s­ge­set­ze gestellt war, wobei eine Hand­lung, falls vorhan­den, wie bei Ora­to­rien etwa nur Bei­w­erk blieb. Das zweite Extrem war Tanz als Behelf für die anderen Büh­nenkün­ste. Hier hat­te der Tanz dem gesproch­enen oder gesun­genen Dra­ma sin­ngemäss zu dienen. Eine Angemessen­heit in der Form wurde vom lei­t­en­den Regis­seur nicht beansprucht, die Form blieb so oft beliebig. Diese Tanzein­la­gen über­wiegten am The­ater, so nan­nte Jooss sie The­ater­tanz. Ihm aber schwebte die Syn­these vor: das Tanz­dra­ma (auch Tanzthe­ater genan­nt). Es sollte Form und Hand­lung in Wech­sel­beziehung erwach­sen lassen, sich gegen­seit­ig bedin­gen. Die inte­gra­tive Fig­ur Kurt Jooss wollte also den Kampf zwis­chen Klas­sik und Mod­erne ver­lagern und forderte: «Schaf­fet auf dem Boden des Alten im Geiste und mit den Mit­teln des Neuen den eini­gen Stil des Deutschen Tanzthe­aters!» Diesem Prinzip blieb er treu. Auch jet­zt nach dem Krieg. Fol­gerichtig führt er nach der erneuten Über­nahme der Leitung des Folk­wang das tägliche Bal­lett­train­ing in die mod­erne Tan­zaus­bil­dung ein. ‚Der Boden des Alten’ ist somit bere­it­et. Das Prinzip nimmt konkrete Gestalt an in sein­er Chore­o­gra­phie und der Chore­o­gra­phielehre in den von ihm erwirk­ten Meis­terk­lassen. Seine Tanz­dra­men fol­gen nicht vorge­fer­tigten Hand­lun­gen wie einem Libret­to, son­dern entwick­eln sich zeit­gle­ich mit der chore­o­graphis­chen Idee (ver­gle­iche den Reigen in «Der grüne Tisch»). Die Form und der Stil der Schritte hat sich nach dem Charak­ter der beteiligten Rollen zu richt­en. Er studiert seine Fig­uren: Welche Hal­tung, Geste ist spez­i­fisch für ihr Milieu, ihren Beruf, ihre Stel­lung? Welch­er Rhyth­mus entspricht diesem Charak­ter? Jooss’ Fra­gen sieht man die Ver­w­er­tung der Laban-Lehre, Stu­di­en zur Entsprechung von Dynamiken und Charak­ter, an. Jooss entwick­elte sie weit­er und lehrte die Entsprechung von Rhyth­men und Charak­ter bzw. Aus­druck.

Pina Bauschs Tanzthe­ater Pina Bausch, die Meis­ter­schü­lerin von Kurt Jooss, gelang die meis­ter­hafte Ver­wirk­lichung seines Gedankens. Für Jooss‘ Geschmack mit der Zeit gar zu gut. Denn Pina liess nicht nur das Hand­lungs­geschehen zeit­gle­ich und in Wech­sel­beziehung mit dem Tanz entste­hen, son­dern diesen (lediglich) gle­ich­berechtigt neben jen­em beste­hen. Wie kam es dazu?

Die ersten Chore­o­gra­phien Pinas waren noch ein­heitlich im Stil und nach einem chore­o­graphis­chen Konzept ver­fasst. Ihre getanzte Oper «Orpheus und Eury­dike», welche vielle­icht die Leser jüngst auf Arte ver­fol­gt haben, fügt sich nicht sklavisch einem Hand­lungsstrang. Aus der Musik und dem Mythos entwick­elt Pina vier The­men, die ‚irgend­wie’ fol­gerichtig sich an das Libret­to, die Akte, und ‚gefühlsmäs­sig zwin­gend’ an den Aus­druck der Musik knüpfen. Der for­male Aspekt des Tanzes und der Stil der Tanzschritte entwach­sen diesen The­men, die wie fol­gt laut­en: Trauer, Gewalt, Friede und Tod.

Die Trauer biegt sich mit gewun­den­em Tor­so bis zum Anschlag, Gewalt hastet mit graham’scher Wut durch den Hades, während leichte limon’sche Arm­schwünge im Ely­si­um den Frieden dahin­tra­gen. Die Ver­schmelzung des Graham‑, Limon- und unpa­thetis­chen Aus­druck­stanz-Stils hat einen Stern geboren, wäre er ein­sam verblieben, man hätte ihn als leuch­t­en­den Höhep­unkt an die Fir­nis der Tanzgeschichte geheftet. So aber verblasst er hin­ter dem Ruhm, der ihm noch fol­gt. Indes, aktuellere Ein­flüsse (aus anderen Sparten) gewin­nen die Ober­hand und in der neu ent­stande­nen Gat­tung Tanzthe­ater schrumpft die Bedeu­tung des Tanzes zugun­sten des The­aters.

Brechts Epis­ches The­ater Das affir­ma­tive Sprechthe­ater der Auf­bau­jahre mit seinem etwas kör­per­losen dafür sehr lit­er­atur- und sprachver­hafteten Darstel­lungsstil wird von einem brecht’schen Sprechthe­ater in den 60ern (zumal an den risikofreudi­geren Häusern) abgelöst. Fand der brave Bürg­er bis­lang im The­ater seine Würde und Iden­tität bestätigt, so will das Regi­ethe­ater aufrüt­teln. Hat sein Pub­likum bis­lang erfol­gre­ich vergessen und ver­drängt, so will das Doku­men­tar-The­ater aufar­beit­en. Wie mächtig dieser Wille in der jun­gen Gen­er­a­tion ent­flamm­bar war, sieht man in der Stu­den­ten­be­we­gung. Die Entschlossen­heit zu poli­tis­chem und moralis­chem Engage­ment dieser Zeit ist ver­ant­wortlich dafür, dass der Ein­druck eines ver­spiel­ten Hap­pen­ings à la Mer­ce Cun­ning­ham auf die jun­gen Chore­o­graphen nicht nach­haltig war. Hans Kres­nik, ein zum Tanzthe­ater zählbares ‚enfant ter­ri­ble’ reagiert 1968 mit einem pro­voka­tiv­en Tanzstück auf die polizeiliche Gewalt gegen die Stu­den­ten­be­we­gung und die Bon­ner Not­stands­ge­set­ze.

In Wup­per­tal holt ein fortschrit­tlich­er Inten­dant 1973 Pina Bausch aus dem geschützten Raum der Folk­wang-Schule und des exper­i­men­tieren­dem Folk­wang-Tanzs­tu­dios an die Öffentlichkeit und verpflichtet sie am The­ater. Behut­sam ertastet sie sich ihre chore­o­graphis­che Hand­schrift. In der drit­ten Spielzeit am Wup­per­taler Stadtthe­ater macht Pina einen Brecht-Weill-Abend. Seit­dem kann man von ihrer Abkehr vom ‚klas­sis­chen’, da mit­tler­weile etablierten, Mod­ern-Dance-Stil sprechen.

Pina Bausch übern­immt die Prinzip­i­en von Brecht: Das Pub­likum soll zu einem kri­tis­chen Betra­chter gemacht wer­den, indem ihm ver­wehrt wird, der Illu­sion der Darstel­lung zu erliegen. Das (allzu) Ver­traute soll ihm in einem neuen Licht, eben ver­fremdet darge­boten wer­den. Diesem Ziel dienen die soge­nan­nten Ver­frem­dungsef­fek­te. Dazu zählt alles, was die Erzäh­lung und Darstel­lung bricht, kom­men­tiert und auf das Spie­len selb­st hin­deutet. Beispiel­sweise wen­den die Tänz­er sich direkt an das Pub­likum und kon­fron­tieren es mit sein­er Erwartung­shal­tung: «Eine schöne vir­tu­ose Tanz­di­ag­o­nale soll ich dir vor­führen? Da hast du sie!» Eine Brechung der Darstel­lung wird erre­icht, wenn etwa ein Hand­lungsablauf wie besessen wieder­holt wird oder mit dem Knopf­druck eines Ton­bandgeräts ein­set­zt und anhält. Mit der Gewährung ein­er kri­tis­chen Betra­ch­tung soll das Pub­likum Ein­blick in die Bed­ingth­eit von Abläufen erhal­ten. Verklemmte All­t­ags­ge­wohn­heit­en wer­den als gesellschaftlich bed­ingte ent­larvt, wenn sie sich aus ihrem funk­tionalen Rah­men lösen und sich verselb­ständi­gen. Män­ner in dun­klem Anzug über ein weites Par­kett ver­streut ver­beu­gen sich bei einem feier­lichen Anlass kurz und ruckar­tig. Wieder­holt, um sich herum, in alle Rich­tun­gen, minuten­lang. Es ist wie ein stock­ender Tanz (im Stück Blaubart. Beim Anhören ein­er Ton­ban­dauf­nahme von Béla Bar­toks Oper «Her­zog Blaubarts Burg», 1977). Brechts ursprünglich­es Ziel, die Bed­ingth­eit der jew­eili­gen Hand­lung ein­er Fig­ur zu beleucht­en, war, sie als verän­der­bare aufzuzeigen. Das ist eine zutief­st aufk­lärerische Idee. Ob ihm Pina Bausch so weit fol­gt, ist fraglich. Im Stück «Café Müller» (1978) fällt sich ein Paar traumwan­d­lerisch in die Arme. Ein aussen­ste­hen­der Fremder richtet ihre Umar­mung: Mund auf Mund, dann Frau in die Arme des Mannes. Der Pose nicht gewach­sen ent­gleit­et ihm die Frau aus den Armen. Kaum am Boden ange­langt zieht eine Kraft sie hoch, und mit traumwan­d­lerisch­er Sicher­heit find­en sie sich wieder in der ursprünglichen Umar­mung. Der Aussen­ste­hende greift erneut ein: Mund auf Mund, Frau in Arme. Sie gleit­et zu Boden. Wie ein Mag­net haftet sie wieder in der Umar­mung, der Fremde kor­rigiert. Das wieder­holt sich noch einige Male, immer schneller. Was unweiger­lich allem einen aggres­siv­en Anstrich ver­lei­ht. Beim elften Mal bleibt der Fremde weg — und das Paar kor­rigiert sich selb­st. Feiert Pina Bausch hier­mit die Verän­der­barkeit oder weist sie sie als neue Bed­ingth­eit aus? Pina Bausch teilt nicht platt Brechts didak­tis­che Aufk­lärungsam­bi­tio­nen. Je vielfältiger die Bedeu­tun­gen, die man aus ihren Szenen her­ausle­sen kann, desto glück­lich­er ist sie.

Impro­visieren lassen Ein berühmt gewor­denes Merk­mal ihrer chore­o­graphis­chen Vorge­hensweise ist das anfängliche Befra­gen ihrer Tänz­er. Z.B.: «Was seht Ihr an Kindern, das Ihr bedauert, nicht mehr tun zu kön­nen?» Antworten kön­nen gesprochen, geschrien, geweint oder vorgemacht wer­den.

Wozu dient das Impro­visieren? Wenn wed­er ein Hand­lungs­faden noch Musik die Chore­o­gra­phie tra­gen, kann Pina anhand ihrer Fra­gen (und Gegen­fra­gen) The­men für die Chore­o­gra­phie eruieren und einkreisen. Anhand der Antworten trifft sie auf Gefüh­le, die man gar nicht richtig einord­nen kann. Diese inter­essieren sie beson­ders. Sie von vie­len Seit­en auszuleucht­en wird in solchen Gesprächen möglich. «Die Schritte sind immer woan­ders hergekom­men; die kamen nie aus den Beinen. Und das Erar­beit­en von Bewe­gun­gen — das machen wir immer zwis­chen­durch. Dann machen wir immer wieder mal kleine Tanzphrasen, die wir uns merken. Früher habe ich aus Angst, aus Panik, vielle­icht noch mit ein­er Bewe­gung ange­fan­gen und habe mich noch gedrückt vor den Fra­gen. Heute fange ich mit den Fra­gen an.» Die Impro­vi­sa­tion scheint die authen­tis­chste Art zu sein, die Tänz­er eines Ensem­bles in das über den Aus­druck­stanz vererbte Prinzip einzu­binden: Jede Bewe­gung hat eine Moti­va­tion. Die Pio­niere des freien Tanzes Isado­ra Dun­can und Ruth St. Denis lebten und tanzten es vor.

Der­art motivierte Bewe­gun­gen her­aufzubeschwören ist schon nicht jed­er­manns Gabe. Sie zu Bildern zu arrang­ieren (denn Tänze sind es immer sel­tener), miteinan­der in Bezug zu set­zen und über ein beein­druck­endes Mon­tage- und Col­lagev­er­fahren zu kon­trastieren ist Pina Bauschs zusät­zliche und gän­zlich orig­inelle chore­o­graphis­che Arbeit. 

Faz­it Es lässt sich fra­gen: was ist mit der Ein­bindung brecht’scher Darstel­lungsmeth­ode im Tanz gewon­nen? Der Tanz selb­st lernt mit ihrer Hil­fe eine Menge über einen sou­verä­nen Umgang mit Hand­lung und einem Ausleucht­en von The­men. Das Sprechthe­ater lernt wiederum vom Tanzthe­ater eine Menge über Rhyth­misierung und Ver­frem­dungsmöglichkeit­en von Geste, Hal­tun­gen und Bewe­gun­gen und deren Anbringung im Raum. Das Sprechthe­ater bere­ichert sich also um kom­pos­i­torische Ele­mente. Seine Wertschätzung zeigt sich in öffentlich­er Anerken­nung: Das Wup­per­taler Tanzthe­ater oder sein jün­geres Pen­dant in Bre­men, das Tanzthe­ater Rein­hild Hoff­mans, wird bei den Berlin­er The­atertr­e­f­fen wieder­holt zu den zehn besten Regieaben­den der BRD gezählt. Seine Wertschätzung zeigt sich auch in seinen Werken: z.B. Die Arbeit eines Christoph Marthalers ist unter dem Ein­fluss des Tanzthe­aters zu sehen, wohl auch die Arbeit­en im Musik­the­ater von Hein­er Goebbels oder gar Robert Wilsons.

Was aber ist for­mal und stilis­tisch für den Tanz gewon­nen? Die Über­win­dung der Berührungsäng­ste zu All­t­ags­be­we­gun­gen leis­teten schon die Aus­druck­stänz­er. Sie liefer­ten eine Aus­beute, die anschliessend in der Bal­lett-Ära Jahrzehnte brach lag. Erst vom Tanzthe­ater wird wieder All­t­ags­be­we­gung ver­w­ert­bar, sezier­bar, neukom­binier­bar. Aber und das muss gesagt wer­den die Ver­w­er­tung gilt nicht dem Tanz. Nicht der Bere­icherung des Bewe­gungsreper­toires und auch nicht der Mehrung chore­o­graphis­ch­er Oper­a­tio­nen am gewon­nen Mate­r­i­al. «Wieso redet man allein vom Tanz? Ich ver­ste­he nicht, warum die Welt über­haupt nicht dazuge­hört. Es geschehen unendlich viele Dinge im Leben, und es ist inter­es­sant, wieso das alles geschieht. So ist auch beim Tanz das wirk­lich Wichtige der Grund, weswe­gen man tanzt» meint dazu Pina. Aber wir fra­gen sie nicht. Und im let­zten Winkel seines Herzens haben wir in Dominique Mer­cy, Grün­dungsmit­glied des Tanzthe­aters, einen Ver­bün­de­ten: «Ja klar würde man sich manch­mal gern mehr bewe­gen, um ehrlich zu sein, — ich bin ja ein Tänz­er. Der Tanz ver­flüchtigt sich, um reich­er den grösst­möglichen Aus­druck zu erwirken.» Die immense Entwick­lung — und ihr weit­eres Poten­tial — in den raren Tanzse­quen­zen Pina Bauschs her­auszule­sen ist wohl die Auf­gabe der kom­menden Chore­o­graphen-Gen­er­a­tion. Und wehe dem bil­li­gen Pla­gia­tor, der sich nur um die Effek­te müht.

Spannbre­ite des Tanzthe­aters Neben Pina Bausch gab es zwei Tänz­er des Tanzthe­aters, die sich aus der Mary Wig­man-Lin­ie des Aus­druck­stanzes entwick­el­ten: Susanne Linke und Ger­hard Bohn­er. Linke kam aus Wig­mans let­zter Diplom-Klasse und erin­nert sich: «Da hat man immer aus dem Ste­hen am Boden das Gewicht nach vorne, das Weltall, die Erde und das Göt­tliche und so gefühlt. Mit dem mageren Kör­p­er, mit dem, was man da hat­te, sollte man das darstellen, das Innere nach aussen kehren.» Der ‚grosse Atem’ und der Blick nach oben seien ihr dabei immer schw­er gefall­en. Aber dies war wohl, meint sie, für die Nachkriegs­gen­er­a­tion typ­isch. Den­noch, trotz einge­hen­der Auswärt­sko­r­rek­tur (das ‚ende­hors’ wurde in ihrer anschliessenden Folk­wang-Aus­bil­dung wichtig), wenn sie später ihre Solotänze ver­fasst «da kommt auf ein­mal … die Mary raus». Sie arbeite alles aus dem Zen­trum her­aus, erk­lärt sie. Wenn sie im Stück «Im Bade wan­nen» (1980) auf dem Rand sitzend die Bade­wanne (!) wie im Walz­er ein­mal um sich, genauer um zwei ihrer alt­modis­chen ‚Füsse’ herum­schwingt, ist es ger­adezu genial und das mit dem Anschein des Triv­ialen. Auch Ger­hard Bohn­er erin­nert sich an den Pathos im Wig­man-Stu­dio und dessen all­ge­meine Ablehnung. Die kün­st­lerische Ern­sthaftigkeit dage­gen, die an den Tanz herange­tra­gen wurde, beein­druck­te ihn. Hier war es, wo er sich zum Tänz­er berufen fühlte, und nicht in der zeit­gle­ich («für die Beine») besucht­en Bal­lettschule. «Ich habe es damals so wie eine Tal­sohle emp­fun­den. Der Aus­druck­stanz war nicht endgültig vor­bei, son­dern eben an einem Tief­punkt ange­langt… Und er hat­te ja was sehr Ver­rufenes in jen­er Zeit». Es wur­den Tänz­er im Stu­dio hochge­zo­gen, obwohl fer­tige Grössen wie «Dore Hoy­er (Ex-Tänz­erin der Wig­man-Gruppe) oder Har­ald Kreutzberg es schw­er hat­ten zu existieren», erin­nert Bohn­er sich. Dore Hoy­er set­zte auch bald ihrem Leben ein Ende. Bohn­ers jahre­langes Engage­ment an Bal­let­thäusern (mod­erne Trup­pen gab es nicht), färbt einst­weilen seine frühen Tanzthe­ater-Chore­o­gra­phien noch. Als er sich der abstrak­teren Seit­en­lin­ie des Aus­druck­stanzes, den Exper­i­menten des Bauhaus-Lehrers Oskar Schlem­mer zuwen­det, erken­nt er seinen Weg, woher er kommt und wohin er gehen mag. Vielfältig sind die (Aus-) Wege des Tanzthe­aters.

Bild: Pina Bausch in Wup­per­tal, zVg.
ensuite, März 2008