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Der Ausdruckstanz

Von Kristi­na Sol­dati - Monte Ver­ità, die Wiege des Aus­druck­stanzes Emil Nolde betra­chtete den bizarren Tanz Mary Wig­mans (damals noch: Marie Wieg­mann) und meinte: «Es gibt noch jeman­den, der tanzt wie Du: Rudolf von Laban!» Die frisch diplomierte Rhyth­mis­che-Gym­nas­tik-Lehrerin vom Dal­croze-Insti­tut in Heller­au, Mary Wig­man, kon­nte bis­lang nur in der stillen Kam­mer tanzen wie sie wollte. Dal­crozes The­o­rie war näm­lich, dass Dynamik, Tak­tart und Struk­tur der Musik durch tanzähn­liche Bewe­gun­gen bess­er nachemp­fun­den und ver­standen wer­den. Nicht aber, dass Tanz etwas Unab­hängiges sei. So fol­gte sie im Som­mer 1913 dem ver­heis­sungsvollen Mann Rudolf von Laban auf den Monte Ver­ità bei Ascona. Sie musste nur den Gongschlä­gen und Handtrom­meln nachge­hen und oben erwartete sie die Frei­heit: Impro­vi­sa­tio­nen im Tanz frei von Musik, Nack­tkul­tur sowie mys­tis­che Natur­spiele. Der Tanz der Däm­merung erfol­gte bei Son­nenun­ter­gang auf einem Bergab­hang, der Tanz der Dämo­nen um Mit­ter­nacht um ein Feuer herum, der abschliessende Tanz des Son­nenauf­gangs richtete sich gen Osten. Was steck­te hin­ter den kul­tischen Rit­u­alfeiern?

 Niet­zsches Ein­fluss Niet­zsches Werk «Also sprach Zarathus­tra» wirke auf die Avant­garde-Kün­stler mit seinem prophetis­chen und bib­lis­chen Duk­tus magisch: Jed­er fühlte sich berufen, dem Aufruf zu fol­gen, mit Überkommen­em zu brechen und die schöpferische Leben­skraft ganz aus sich zu ent­fal­ten. Dem Tanz fiel dabei eine ganz urtüm­liche Rolle zu. Der dion­y­sis­che Tanz sei die ursprünglich­ste Bekun­dung der Freude, deren heil­sam-eksta­tis­che Kraft. Laban verkün­dete diese die ganze Men­schheit betr­e­f­fende Ver­heis­sung mit Vor­liebe. Alle soll­ten von den Zivil­i­sa­tion­ss­chä­den erlöst wer­den. Für Mary war Niet­zsche zwar ein Weg­weis­er, doch nur ein «zwei­di­men­sion­aler Tänz­er, […] dieser Vortänz­er des Über­men­schen jam­mert noch zu viel und tanzt noch lange nicht genug». Als im näch­sten Som­mer, im August 1914, Deutsch­land die Gen­eral­mo­bil­machung aus­ruft, ver­waist die schweiz­er Som­mer-Kolonie auf dem Monte Ver­ità. Laban und die mit­tler­weile zur Assis­tentin avancierte Mary Wig­man bleiben sich und ihren Selb­st­stu­di­en über­lassen. Laban fürchtet, als ehe­ma­liger k.u.k.-Reserveoffizier noch einge­zo­gen zu wer­den. Ihre aus­gear­beit­eten Pläne für ein Tanzzen­trum in Deutsch­land wer­den kurz­er­hand nach Zürich ver­lagert (Vera Sko­ronel und Berthe Trümpy wer­den dort aus­ge­bildet, zwei grosse kün­ftige Mary-Wig­man-Tänz­erin­nen). Laban tritt ein­er Freimau­r­erloge bei. Seinen Appetit auf rit­uelle Fes­tlichkeit­en kann er als Hauptzer­e­monien­meis­ter hier gewiss stillen. Bald schon gehört Rudolf von Laban zur kün­st­lerischen Szene Zürichs. Diese wird von den Dadais­ten bevölk­ert. Ihre Auf­fas­sung von radikaler Neuerung liegt ihm. In ihrem Kreis sind die ersten Auftritte sein­er Schule, so wie umgekehrt Labans Tanz-Fre­un­deskreis die treuen Bewun­der­er der Dada-Ausstel­lun­gen stellt. Nur eine ist selt­sam immun gegenüber dem iro­nisch-ver­spiel­ten Dada: Mary Wig­man mit ihrem wei­hevollen Ernst. Sie bleibt dem Expres­sion­is­mus ver­haftet. Ergrif­f­en präsen­tiert sie dem DadaKreis eine deklam­a­torische Ver­tanzung des Werks «Also sprach Zarathus­tra». Ernst ist es wohl auch der deutschen Regierung, wenn sie mit 150 000 Exem­plaren dieses Buch neb­st Bibel den Sol­dat­en auf den Weg an die Front mit­gibt.

Im Zürcher Stadtthe­ater, dem Pfauenthe­ater, ern­tet Mary Wig­man 1917 vom bürg­er­lichen Pub­likum nur Hohn und Pfiffe. Die «NZZ» fragt: «Weshalb […] melan­cholis­ches Spekulieren über nächtliche Abgründe, wenn rings umher frische, grüne Wei­de liegt?»

 Was bringt die grüne Wei­de? Was also treiben die Begrün­der des Aus­druck­stanzes, Mary Wig­man und Rudolf von Laban auf den safti­gen Wiesen von Ascona? Laban misst mit dem Meter­band … die Beweglichkeit des Kör­pers aus, set­zt das Winkel­mass an Mary an. Eine bahn­brechende Arbeit begin­nt: Laban ver­sucht eine definier­bare Struk­tur für ein Mod­ell der men­schlichen Bewe­gung auszu­machen.

 Labans The­o­rie Wie Leonar­do da Vin­ci in sein­er Fed­erze­ich­nung «Der vit­ru­vian­is­che Men­sch» zeigt, ist der Men­sch den Pro­por­tio­nen der Kör­per­glieder gemäss sowohl in einen Kreis als auch in ein Quadrat zu span­nen. Der Forsch­er Laban, am plas­tis­chen Bewe­gungsra­dius inter­essiert, platziert ihn in eine Kugel und einen Wür­fel. Doch es stellt sich her­aus, dass die ide­ale geometrische Fig­ur, welche sowohl den Pro­por­tio­nen als auch den meist­genutzten Rich­tun­gen gerecht wird, der Ikosaed­er ist (ein Zwölfeck). Von seinen Kan­ten aus hat der Ikosaed­er durch seine Mitte drei gle­iche rechteck­ige Flächen ges­pan­nt, die jew­eils senkrecht zueinan­der sind. Diese drei Rechtecke entsprechen zum einen dem aufrecht­en Men­sch in seitlich leicht­ge­spreizter Arm- und Bein­po­si­tion (in der ver­tikalen Fläche), zum zweit­en dem­sel­ben aufrecht­en Men­schen in vor-rück-gespreizter Posi­tion (in der sagit­tal­en Fläche) und zum drit­ten ein­er Ebene um den Nabel herum, die wie eine Tis­ch­plat­te sowohl die hor­i­zon­tal­en Rich­tun­gen, in die wir uns bewe­gen kön­nen als auch die Bein­rich­tun­gen im 90°-Winkel erfasst (die hor­i­zon­tale Fläche).

Dies ist erst der Anfang. Der Tänz­er im Raum, mit sein­er Ori­en­tierung, Sym­me­trie, Pro­por­tion, aber auch die Gestalt der Bewe­gungsab­folge gehören zu sein­er The­o­rie der Chore­utik. Dann aber stürzt er sich in das unglaubliche Unter­fan­gen, eine Sys­tem­atik men­schlich­er Dynamik, der möglichen Dynamiken men­schlich­er Bewe­gung zu entwer­fen. Diese nen­nt er Eukinetik. Natür­lich ist die Eukinetik im Zeital­ter des Aus­druck­stanzes beson­ders aktuell und fordernd. Denn jede Dynamik ist dem Aus­druck­stanz willkom­men, keine tradierte Ästhetik trifft eine Auslese. Sys­tem­a­tisch sucht Laban erst nach gemein­samen Fak­toren hin­ter den Antrieb­skräften, wie er die Dynamik auch nen­nt: Allen ist Raum, Zeit und eine Kraft gemein. Jed­er dieser Fak­toren erstreckt sich auf ein­er Skala zwis­chen zwei Polen (bei der Zeit wäre die Skala zwis­chen «plöt­zlich» und «allmäh­lich»). So unwahrschein­lich es klingt, Laban schafft es, jede men­schliche Dynamik in der Kom­bi­na­tion dieser Fak­toren zu beschreiben. Es gelingt ihm nicht nur sie der­art zu analysieren, son­dern ihr auch eine Nota­tion zuzuweisen. Eine Nota­tion, die des Namens würdig ist: sie bleibt entz­if­fer­bar und anwend­bar. Mehr noch, sie kann (ange­blich) durch Zusätze mit den Entwick­lun­gen im zeit­genös­sis­chen Tanz mithal­ten.

Was für einen Nutzen bietet die The­o­rie für den Tänz­er? Laban meinte, er könne eine Art Ton­leit­er, A‑Skalen und B‑Skalen, soge­nan­nte «Laban-Schwünge» anhand des Ikosaed­ers anbi­eten, die wie Mor­genge­bete den Tänz­er auf die Erfordernisse des Tages ein­stim­men. Doch als Mary Wig­man die ver­langten Bewe­gungsskalen mit der ihr eige­nen, ganzen Hingabe tanzte, unter­brach sie Laban wütend, «sie würde mit ihrer schreck­lichen Aus­drucksin­ten­sität seine ganze The­o­rie tänz­erisch­er Har­monie ruinieren.» — Mary wird ihre kün­st­lerische Ent­fal­tung ohne Labans The­o­rie zuwege brin­gen.

 Mary Wig­mans Stil Auf dem Monte Ver­ità greifen mit dem Aufen­thalt C.G. Jungs die Gedanken der Psy­cho­analyse um sich. Marys Hex­en­tanz, Dämo­nen­tänze und eksta­tis­chen Stücke befind­en sich an der Schnittstelle zwis­chen Tiefenpsy­cholo­gie und ein­er eigen­tüm­lichen wig­man­schen Meta­physik. Betra­cht­en wir den eksta­tis­chen Tanz. Mit ihrer Drehmo­not­o­nie hat Mary Wig­man eine bemerkenswerte Trancetech­nik entwick­elt. Ihr Kör­p­er bildet unver­rück­bar eine Achse, um die sie mit stets ein­wärts übertre­ten­dem Bein eine Spinnkraft entwick­elt, die sich in ein­er zunehmenden Geschwindigkeit entlädt. Während ihre Arme seitlich wellenar­tige Akzente geben, wird ihr Kör­p­er immer weit­er nach oben geso­gen, was sie als einen Schwe­bezu­s­tand empfind­et. Bis zu acht Minuten hält die Trance. Die Gegen­stände, von Anbe­ginn nie anvisiert (im Gegen­satz zum Fix­ieren eines Punk­tes mit dem Blick beim klas­sis­chen Tanz), ver­schwim­men. Sie fühlt sich ein­er­seits enthoben, ander­er­seits «als Mit­telpunkt des grossen Bewe­gungs­geschehens». Dann aber wiederum — und das rel­a­tiviert den egozen­trischen Blick — als eine Art Sym­bol, «Teil aller unendlich schwin­gen­den Weltkör­p­er». So heisst’s im Tage­buch. Mary Wig­mans Aus­druck­stanz war immer bedeu­tungs­ge­laden. Die gedruck­ten Begleit­worte waren aber sel­ten hil­fre­ich.

 Mary Wig­mans Wirkung Als die Schweiz Marys Aufen­thalt nach dem Krieg nicht weit­er genehmigt, geht sie nach Dres­den, der vor­erst einzi­gen deutschen Stadt, die ihr zujubelt. Als die ihr ver­sproch­ene Bal­lettmeis­ter­stelle an der Sem­per­op­er weit­er­vergeben wird, springt die Zürich­er Indus­triel­len­tochter Berthe Trümpy zu Hil­fe und kauft in Dres­den ein Haus, die kün­ftige Mary-Wig­man­Schule. Mit ihrem neuen Stil wirkt Mary wie ein Mag­net. Inner­halb von ein bis zwei Jahren hat sie die besten Tänz­er des Lan­des um sich: Har­ald Kreutzberg, Hanya Holm, Gret Paluc­ca, Max Ter­pis, Yvonne Geor­gi (neben den alten Schü­lerin­nen Vera Sko­ronel und Berthe Trümpy). Wenn ein Win­terthur­er Mäzen 1923 die Bil­dung der ersten mod­er­nen pro­fes­sion­nellen Truppe spon­sort, ist es keine Fehlin­vesti­tion: ihr ist Erfolg beschieden. Sie erobert nach und nach lan­desweit Pub­likum und Presse und scheint auf dem zweit­en Tänz­erkongress gegenüber dem rival­isieren­den Laban-Lager kün­st­lerisch den Sieg davonzu­tra­gen.

Von da an hört man aber kri­tis­che Stim­men vom Fach: der Höhep­unkt sei wohl hin­ter ihr, der Pathos nicht immer erträglich. Ihre Truppe muss sie aus finanziellen Grün­den auflösen. Zwei Gast­spiele in New York tre­f­fen noch auf Euphorie, das dritte auf Sät­ti­gung und Ablehnung. Wig­man scheint nur noch beim kon­ser­v­a­tiv­en Bil­dungs­bürg­er­tum gefragt, die Aufgeschlosseneren richt­en ihren Blick auf Gesellschaft­skri­tik. Vales­ka Gert, Kurt Jooss und der rote Jean Wei­dt sind die engagiert­eren Tänz­er. Bewe­gung­stech­nisch gehören sie (noch) zum Aus­druck­stanz.

 Unterm Hak­enkreuz Ab 1933 ist es vor­bei mit der Gesellschaft­skri­tik. Mary Wig­man ist für die NSDAP hof­fähig. Obwohl aus Goebbels Tage­buch her­vorge­ht, er wün­sche sich den Tanz «beschwingt und schöne Frauenkör­p­er zeigend» statt «philosophisch [wie] Pal­luc­ca und Mary Wig­man». Doch ihre Philoso­phie muss ihm schme­icheln: sie schreibt 1935 ein Buch zum deutschen Wesen: «Die deutsche Tanzkun­st».

Mary Wig­man legt keinen vorau­seilen­den Gehor­sam an den Tag. Sie fügt sich aber ohne viel Erhebens. Und ohne Kom­men­tar. In ihrem Tage­buch beispiel­sweise ver­merkt sie 1934 wortkarg: «Clärchen Gold­schmidt nicht mehr da, Selb­st­mord.» Auch Har­ald Kreutzberg, ein beg­nade­ter und welt­berühmter Aus­druck­stänz­er, schafft es, sich ohne jegliche Stel­lung­nahme durch das Dritte Reich zu manövri­eren: «Das Schick­sal ersparte mir eine Stel­lung­nahme, die unweiger­lich zum Bruch und für mich zur Katas­tro­phe hätte führen müssen.» Er blieb ein per­sön­lich­er Gün­stling Goebbels und wurde als «kul­tureller Pro­pa­gan­dist» bis zum Krieg auf Aus­land­tourneen geschickt. Rudolf von Laban war da schon dezi­diert­er, vielle­icht aus der unsicheren Lage eines Nicht­deutschblüti­gen her­aus. Er schme­ichelte mit seinen gross­for­mati­gen Bewe­gungschören, die in den Dienst der Zusam­menge­hörigkeit des deutschen Volkes gestellt wur­den. Er war Direk­tor der Berlin­er Staat­sop­er bis 1934, Leit­er der Deutschen Tanzfest­spiele 1934, Direk­tor der neuge­grün­de­ten Tanzbühne, anschliessend der Deutschen Meis­ter­w­erk­stät­ten für Tanz und geladen für die Olymp­is­chen Fest­spiele 1936. Dann aber war sein Schick­sal ihm nicht mehr hold…

Als ein Ver­ant­wortlich­er für Erb- und Rassen­lehre sich 1934 in die Schule Mary Wig­mans nieder­liess, wo sie übri­gens auch lebte, ver­mochte er ihr keine inhaltliche Auseinan­der­set­zung zu ent­lock­en. Nicht ein­mal im Tage­buch. Sie kon­sta­tiert nur: «Keine Pri­va­tex­is­tenz mehr. Gefäng­nisleben hier im Haus. Nichts zu machen».

 Ein­er, der es anders macht: Kurt Jooss Kurt Jooss war Schüler und bald Assis­tent Labans nach dessen Schweiz­er Zeit. Da Laban mehr noch als zu chore­ografieren es liebte, die Men­schen aus ihren Hem­mungen zu lösen, hat­te Jooss genug Gele­gen­heit, sein schöpferisches Tal­ent anzubrin­gen. 1924 fühlte er sich reif und just bekam er eine Bal­lettmeis­ter­stelle in Mün­ster ange­boten. Nur wenige schafften es damals von der freien Szene ans The­ater, denn nur vere­inzelte The­ater hat­ten den Mut für radikal Neues (Mary Wig­mans Ver­tragsange­bot an der Sem­per­op­er wurde wie erwäh­nt kurz vor Spielzeit­be­ginn zurück­ge­zo­gen). Als Kurt Jooss’ Part­ner, ein Tänz­er, Büh­nen­staubal­lergie bekam und die Stelle aufgeben musste, grün­dete er mit ihm eine Schule. Mehr noch: Zusam­men mit dem Operndi­rek­tor die erste spartenüber­greifende Kun­staus­bil­dung Deutsch­lands. Für den Tanz schwebte ihm vor Augen, ihn «von jeglich­er weltan­schaulichen Ver­mum­mung zu entk­lei­den». Aus ihr wird die leg­endäre Folk­wangschule entste­hen, noch heute die Adresse für mod­er­nen Tanz. Die Laban­schen Meth­o­d­en der Chore­utik und Eukinetik bilde­ten die Grund­la­gen.

 Jooss inte­gri­ert Inzwis­chen fand der erste Tänz­erkongress (1927) statt. Die zer­split­tert­ste aller Kun­starten (von Gesellschaft­stanz, klas­sis­chem Büh­nen­tanz bis freiem Tanz) sollte ein­heitlich­er in der Öffentlichkeit (auch in Lohn­fra­gen) auftreten kön­nen, eine Gew­erkschaft grün­den und eine staatliche Aus­bil­dungsstätte fordern. Alle namhaften Tänz­er und Päd­a­gogen waren zur Stelle — auss­er Mary Wig­man. Rival­itäten, schon bei der Organ­i­sa­tion, führten zu ihrem Fern­bleiben. Und zu ihrer Grün­dung eines eige­nen Inter­essen­ver­bands. Kurt Jooss über­nahm daraufhin die Organ­i­sa­tion des zweit­en Kon­gress­es und schlichtete zwis­chen zwei Ver­bän­den. Bei der Frage der Tan­za­kademie kristallisierte sich im Plenum des zweit­en Tanzkon­gress­es der Zwies­palt in der Tanzwelt her­aus: Klas­sik oder Mod­erne? Soll das klas­sis­che Bal­lett noch in ein­er neu zu schaf­fend­en Aus­bil­dung vertreten sein oder ist dem mod­er­nen Tanz à la Mary Wig­man als kul­tureller Neuerung voll und auss­chliesslich Rech­nung zu tra­gen? Kurt Jooss stand für eine Syn­these ein. Er forderte die Tänz­er auf, sich so viel­seit­ig wie möglich zu bilden. Ein noch heute gültiger Rat.

Essen war im kul­turellen Aufwind. Das Ruhrge­bi­et, die Arbeit­er­re­gion Deutsch­lands, wollte sich Kul­tur leis­ten, und zwar gute. Hat­ten die Mün­ster­an­er Spiess­bürg­er ger­ade gegen ihre The­ater­leitung int­rigiert? Um so bess­er! Essen empf­ing nach und nach die gesamte Mün­ster­an­er Rige samt der inter­diszi­plinären Akademie von Kurt Jooss. Der gute Ruf der Akademie machte an Lan­des­gren­zen nicht halt. Essen ging auch auf Jooss’ Vorschlag ein, den erwäh­n­ten zweit­en Tanzkongress zu beherber­gen und hielt hoff­nungsvoll an Kurt Jooss fest, als er von der Berlin­er Staat­sop­er ein Ange­bot erhielt. Jooss emp­fahl Rudolf von Laban für den Posten. Dieser wirk­te seit kurzem an der Folk­wang-Schule (nach­dem er wie des öfteren — ger­ade Konkurs gemacht hat­te). Und Laban geht. In den darauf­fol­gen­den Jahren der Depres­sion pri­vatisiert sich die Schule, um der Stadt nicht zur Last zu fall­en und die Lehrer arbeit­en für das halbe Geld.

 Jooss kri­tisiert Auf der Bühne präsen­tiert Jooss Chore­ogra en, in denen er sich von seinen expres­sion­is­tis­chen Anfän­gen, «dem freien, in sein­er Art ‚bar­barischen’ Aus­druck­stanz» abkehrt, wie er meint. Die Gefühlsins­brun­st war noch nie seine Sache, und nun sieht er sich von der neuen Sach­lichkeit gefordert: von «sparsamer Ökonomie und kun­st­gemäss­er Beschränkung». Er stellt den Men­schen in ein bes­timmtes und ihn bes­tim­mendes Milieu. Das war unweiger­lich Gesellschaft­skri­tik. Er brand­markt den Kon­tak­t­man­gel der Men­schen, die rast­los has­tende Gesellschaft. Als Abon­nent der Welt­bühne liest er Tuchol­skys Aufrufe zum Aufrüs­tungsstop. 1932 schöpft Jooss für einen Chore­ografen­wet­tbe­werb in Paris ein Stück über den Krieg mit dem Titel «Der grüne Tisch». Es wird ein ausseror­dentlich­er Erfolg und erhält den ersten Preis. Es gilt als sein gelun­gen­stes Werk mit sein­er for­malen Engführung. An einem lan­gen Tisch, der sich bis in den Büh­nen­hin­ter­grund zieht, biegen und beu­gen sich zu bei­den Seit­en wichtigtuerische Beamte in Frack. Sie steigern sich in einen Stre­it, ein Schuss fällt und der Krieg ist lanciert. Der Tod, ein steifes Uni­for­men-Skelett, sucht nach und nach alle Gesellschaftss­chicht­en heim. Der Tanz ist ein bek­lem­mender Todesreigen, an dessem Ende das Anfangs­bild ste­ht, der Tisch mit viel Frack. Welch­er Kon­trast zu Wig­mans hero­is­ch­er Behand­lung des Todes an den Olymp­is­chen Fest­spie­len!

Als 1932 mit einem neuen Inten­dan­ten der Hit­ler­gruss am The­ater einge­führt wird und die jüdis­chen Mitar­beit­er ent­lassen wer­den, nimmt Jooss seinen Hut. Den gekündigten Mitar­beit­ern erwirkt er über bürokratis­che Hin­dernisse hin­weg noch Aus­reisegenehmi­gun­gen als Mit­glieder sein­er (selb­ständi­gen) Tournee-Kom­panie. Der lebenslange Fre­und und jüdis­che Kom­pon­ist Fritz Cohen darf nicht mehr das The­ater betreten und Jooss solle, wenn’s denn nun sein muss, dessen Stücke spie­len, ohne den Namen zu nen­nen. «Darauf antwortete ich: Wenn Sie glauben, dass jüdis­che Musik für Deutsche schlecht ist, bleibt es jüdis­che Musik, ob Cohens Name nun erwäh­nt wird oder nicht». Auftrittsmöglichkeit­en in Deutsch­land ergeben sich keine mehr. Auch wenn Jooss es nicht wahrhaben will. Wenige Tage vor der geplanten Nieder­lan­den­Tournee erhält er aus Freimau­r­erkreisen einen Wink, das Land schnell­st­möglichst zu ver­lassen. Er gibt daraufhin der Presse den offiziellen Abreiseter­min in drei Tagen bekan­nt. Jooss packt über Nacht die Kof­fer, bringt seine Tochter unter und reist samt Kom­panie vor Tage­san­bruch ab. Wenige Stun­den vor dem offiziellen Ter­min klin­gelt es an sein­er Tür in Essen. Sein Part­ner Leed­er öffnet die Tür: eine «Kom­mis­sion» wün­scht Jooss, verge­blich, und kon­fisziert die Woh­nung.

Jooss’ Wirkung auss­er Lan­des Kurt Jooss, seine Kom­panie und Dutzende ihm nach­fol­gende Schüler find­en in der reform­päd­a­gogis­chen Akademie Dart­ing­ton in Eng­land ein gast­fre­undlich­es Zuhause. Von dort aus tourt Jooss weltweit. Die Ein­ladung, an den Olymp­is­chen Fest­spie­len teilzunehmen, lehnt er ab und ver­weist auf das solis­tis­che Kollek­tiv seines Ensem­bles, das den erwün­scht­en Massen­for­ma­tio­nen so gar nicht nahekommt. Bei ein­er Durchreise durch Paris stösst Jooss 1937 auf einen herun­tergekomme­nen Rudolf von Laban. Er ist sehr krank, in Deutsch­land kür­zlich in Ung­nade gefall­en und uner­wün­scht. Als ihn Jooss auf der Rück­reise in unverän­dertem Zus­tand wiederfind­et, nimmt er ihn nach Dart­ing­ton mit. Dort ver­fasst Jooss 1939 ein Stück über den Auf­stieg eines Tyran­nen. Die neg­a­tive Fig­ur wan­delt sich in eine pos­i­tive, als sie durch ein Selb­stopfer eine eskalierende Katas­tro­phe ver­hin­dert. Der Kriegsaus­bruch wenige Wochen nach der Pre­miere straft diese Hoff­nung Lügen. Kurt Jooss schickt seine Kom­panie zum ersten mal allein auf Tournee nach Übersee. Er selb­st möchte der britis­chen Regierung gegenüber dem ver­has­sten NS-Regime in welch­er Form auch immer zur Ver­fü­gung ste­hen. Wom­it er nicht rech­nen kann: sie kom­men und steck­en ihn in Haft. Erst als sich renom­mierte Per­sön­lichkeit­en wie der Volk­sökonom Lord John May­nard Keynes für ihn und ähn­liche «feindliche Aus­län­der» ein­set­zen, kommt Jooss nach einem hal­ben Jahr frei.

Im Exil machte Jooss die Welt mit sein­er Kun­st bekan­nt, im Nachkriegs­deutsch­land macht er den tänz­erischen Nach­wuchs mit der ver­passten Welt bekan­nt: Er wird den Nach­wuchs an der Folk­wang-Schule mit den weltweit besten Lehrkräften verse­hen, die ihm in den Exil­jahren zu Fre­un­den wur­den. Pina Bausch wird eine sein, die davon prof­i­tiert.

Bild: Mary Wig­man von Char­lotte Rudolph
ensuite, Feb­ru­ar 2008

 

 

 

Artikel online veröffentlicht: 6. Oktober 2017