- ensuite - Zeitschrift zu Kultur & Kunst - https://www.ensuite.ch -

Der explosive Pool der Frustrierten

Von Patrik Etschmay­er - Sog­ar in den zivil­isiert­eren Threads auf Face­book und in Diskus­sions­foren ist die Diskus­sion am Glühen: Seit die Zürcher Sozialdirek­torin Jacque­line Fehr den athe­is­tis­chen Exil-Algerier Kazem El Ghaz­za­li beschuldigt hat, der Linken ungerechter­weise eine Blind­heit gegenüber dem Islamis­mus zu unter­stellen und dem Islam selb­st die Schuld an Ter­ror­is­mus anzuhän­gen, fet­zen sich sog­ar ganz vernün­ftige Leute über das The­ma Islamis­mus, Islam und was da alles miteinan­der zu tun hat.

Oder eben nicht.

Dabei zu ein­er defin­i­tiv­en Lösung zu kom­men, ist ver­mut­lich unmöglich. Zu sehr bee­in­flussen per­sön­liche Erfahrun­gen, Erwartun­gen und Wün­sche, wie die Welt zu sein hat, die eigene Wahrnehmung.

Eine aus europäis­ch­er Sicht defin­i­tive Wahrheit ist wohl, dass Islamis­mus eine human­itäre Katas­tro­phe darstellt. Doch weshalb lock­te und lockt dieser trotz­dem Tausende, ja Zehn­tausende in seinen Bann und bringt Men­schen dazu, mit sich zusam­men möglichst viele andere in den Tod zu reis­sen und führt dort, wo dieser an der Macht ist, zu blutrün­sti­gen Schreck­en­sreg­i­men?

[wc_quick_donation]

Schon hier ist man wieder mit ver­schieden­sten Fra­gen kon­fron­tiert, die aufge­dröselt wer­den müssen.

Zum einen die für uns fast total irre Frage: Warum würde jemand den IS unter­stützen, um dort, wo man selb­st lebt, die Macht zu übernehmen?

Die Antwort war in vie­len Gebi­eten so ein­fach wie: Recht­losigkeit, Ungerechtigkeit, Willkür und Not. Natür­lich ist es klar, dass der IS den Ide­ol­o­gis­chen und logis­tis­chen Hin­ter­grund fanatis­ch­er Staat­en und deren Bewohn­er brauchte, um wirk­lich in die Gänge zu kom­men (namentlich Sau­di-Ara­bi­en, Kuwait und Qatar).

Doch brauchte es auch Gebi­ete, in welchen ein Macht- und Gerechtigkeitsvaku­um herrschte, in denen diese Grup­pen ein Rück­zugs- und Auf­bauge­bi­et find­en kön­nten. Die Poten­taten­staat­en, die während des kalten Krieges ungeachtet ihrer Grausamkeit­en darauf zählen kon­nten, von ihren Sug­ar-Dad­dies in Moskau oder Wash­ing­ton gestützt zu wer­den, waren schon länger am Wanken und als die USA den irren Entschluss fasste, Sad­dam Hus­sein zu stürzen und so dessen Ter­ror­regime mit einem waf­fen­star­ren­den Chaos erset­zte, war zumin­d­est im mit­tleren Osten das Spielfeld etabliert, in dem uralte Kon­flik­te mit mod­er­nen Waf­fen und bronzezeitlichen Ideen aus­ge­focht­en wer­den kon­nten. Ganze Regio­nen fan­den sich ohne staatliche Struk­turen wieder, in denen unberechen­bare, willkür­liche Gewalt herrschte. Der IS war zwar genau gle­ich bru­tal, wie die War­lords, aber sie bot wenig­stens ein berechen­bares Regel­w­erk in dem ein Über­leben möglich schien.

Doch was mit den europäis­chen Islamis­ten? Diese sind bere­its seit den 80er Jahren im Inku­ba­tor und die Brut schlüpfte in den 0er Jahren schliesslich aus. Die Ghet­toisierung in Grossstädten, grassierende Arbeit­slosigkeit — zum Teil durch Desin­ter­esse an Inte­gra­tion durch die Immi­granten, bzw. deren Nachkom­men selb­st, aber eben­so durch Ablehnung von solchen Leuten durch Arbeit­ge­ber und die Gesellschaft (keine Chance auf Stellen trotz guter Noten in der Schule) schafften eine Melange, welche zu ein­er neg­a­tiv­en Feed­backschlaufe führte. Im Hin­ter­grund standen da aber auch Fehler, die schon in den 70er-Jahren gemacht wur­den, als in Deutsch­land zum Beispiel nur Inter­esse an gün­sti­gen Arbeit­skräften bestand, die Inte­gra­tion von diesen aber Vorsät­zlich ver­mieden wurde, da man an solchen Leuten als Teil der Gesellschaft kein Inter­esse hat­te. Wer heute über Par­al­lelkul­turen spricht, soll ein­fach kurz daran denken, dass diese Schiene lange Zeit offizielles Pro­gramm gewe­sen ist.

Dann die Leitkul­tur. Für Men­schen, die im Chaos leben oder die sich an einem Ort nicht erwün­scht fühlen, gibt es immer noch so etwas wie eine Leitkul­tur. Es ist die ver­meintliche Kul­tur der Vor­fahren, jene die dor­thin zurück zeigt, wo ange­blich die echt­en Wurzeln liegen. Je weniger Struk­tur vorhan­den ist, desto krud­er und sim­pler kann diese mys­tis­che Kul­tur aus­fall­en, solange sie zumin­d­est einen Anschein der Authen­tiz­ität bietet und das Ego auf­pumpt. Nicht zulet­zt gegenüber jenen, die einen offen­bar ver­acht­en und ger­ingschätzen.

Islamis­mus ist die Bewe­gung der Gekränk­ten, der sich belei­digt füh­len­den und der zu kurz gekomme­nen jun­gen Män­ner. Dabei ist es nicht wichtig, ob sie wirk­lich unfair von der Welt behan­delt wor­den sind und ob sie ver­di­en­ter- oder unfair­erweise es zum Vorstel­lungs­ge­spräch nicht schafften oder den Job nicht beka­men. Gewisse Leute lieben es, Opfer zu spie­len um Täter zu wer­den. Bei uns sind es die Recht­sna­tionalen und Hitlers Nazis waren eine Partei der sich zu kurz gekom­men füh­len­den, genau wie es die neuen Nazis sind. Wer dage­gen seine kul­turelle Iden­tität im Islam verortet und sich stark gekränkt fühlt, wird dage­gen den IS wählen. Genau wie die Nazis mit dem ange­blichen Erbe der arischen Über­men­schen suchen die Islamis­ten den ver­gan­genen Ruhm ihrer ange­blichen Vor­fahren wieder zu etablieren und die Welt — genau wie die Nazis — für den End­sieg zu erobern.

Diese meist jun­gen Män­ner sehnen sich nach einem Sinn, einem höheren Ziel und ein­er Wahrheit, der sie bedin­gungs­los fol­gen kön­nen und die ihrem Drang, etwas zu sein entsprechen und gle­ichzeit­ig ihrer tiefen sex­uellen Frus­tra­tion ent­fliehen kön­nen, um das sex­uelle Ver­sprechen des ver­heis­se­nen Paradieses zu erre­ichen. Es ist ja kein Zufall, dass die Biogra­phie viel­er Atten­täter Beze­ich­nun­gen wie “Gele­gen­heit­skrim­ineller”, “Ver­sager” und “Klein-Dro­gen­deal­er” vorkom­men. Ori­en­tierungs- und Beziehungs­los und nur mit ein­er vagen Idee ein­er kul­turellen Iden­tität aus­ges­tat­tet sehen sie sich auf ein­mal mit ein­er kristal­lk­laren “Wahrheit” ohne jede Ambivalenz, aber dafür mit dem Ver­sprechen, für eine grosse, göt­tliche Sache kämpfen und sog­ar das eigene Leben hergeben zu ‘dür­fen’, kon­fron­tiert. Sie lassen sich aus dem bish­eri­gen ‘Nichts’ als Kanonen­fut­ter von radikalen, vielfach mit saud­is­chem Geld finanzierten Predi­gern ein­wick­eln, welche Reli­gion als das ulti­ma­tive Opi­um für die Massen in die Venen der Unzufriede­nen ein­spritzen.

Doch hier kommt der Knack­punkt: Um der Reli­gion diese Macht zu ver­lei­hen, muss zuerst ein Pool von Men­schen vorhan­den sein, die verzweifelt, frus­tri­ert, gekränkt und entwurzelt genug sind, um auf einen solchen Kokolores über­haupt erst einzusteigen. Und dieser Pool ist nicht aus dem Nichts ent­standen.

Anders gesagt: Die gegen­wär­tige Islamis­ten­pest ist nicht etwas Orig­inäres und ihre Ursachen sind nicht in den let­zten weni­gen Jahren, son­dern in den let­zten Jahrzehn­ten zu find­en. Noch ernüchtern­der: es wird sehr lange gehen, bis dieser Sumpf aus­getrock­net ist — vor allem weil derzeit immer noch her­zlich wenig passiert, diesen und seine Ursachen — Diskri­m­inierung, kul­turelle Entwurzelung und die finanziellen Ressourcen von Radikalen Öl-Reg­i­men, die immer noch vom West­en hofiert wer­den, auszutrock­nen.

So stimmt es zu einem Teil, dass der Islam nicht die einzige Ursache des islamistis­chen Ter­rors ist, aber er ist ein unverzicht­bar­er Bauteil dieses Hor­ror-Puz­zles und wer dies abstre­it­et, will, aus was für Grün­den auch immer, schein­bar blind gegenüber der Real­ität sein, die immer tödlichere Fol­gen bei uns und vie­len anderen Orten auf der Welt verur­sacht.