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Die “besten” Terroristen?

Von Patrik Etschmay­er - Die Frage ist ja unter­dessen wirk­lich, wer am besten Ter­ror macht. Allerd­ings lässt sich das nicht wirk­lich Quan­tifizieren, da das Ziel des Ter­rors — auch wenn das viele nicht begreifen — nicht das Töten von Men­schen ist. Die Getöteten sind lediglich das Mit­tel zum Ziel, die Gesellschaft zu unter­graben und zu verun­sich­ern. Deshalb lohnt es sich, auch andere Phänomene genauer anzuschauen.

Im “besten” Jahr des Ter­ror, näm­lich 2001, sind in der west­lichen Welt ca. 4000 Men­schen durch islamistis­che Ter­ro­ran­schläge ums Leben gekom­men. Doch der grausige Erfolg des dama­li­gen Anschlages war ja nicht, der Zusam­men­sturz des WTC oder der Brand im Pen­ta­gon. Es war viel mehr der im Anschluss aus­gelöste Krieg im Irak, der Hun­dert­tausenden das Leben kostete und die Macht­ba­sis des Islamis­mus vervielfachte.

Ter­ror ist die Anwen­dung von Gewalt — häu­fig physisch, aber es gibt auch noch andere For­men — um bre­ite Schicht­en ein­er Gesellschaft zu verun­sich­ern und so die gesamte Gesellschaft zu unter­minieren. Sie soll die Wider­stand­skraft eines Sys­tems schwächen und den Weg für die Ziele der Angreifer frei machen. Das Ziel des Ter­rors ist also nicht die Tat, son­dern der Effekt, der vielfach nicht auf den ersten Blick sicht­bar ist.

Das Unter­minieren von Frei­heit­srecht­en durch den Ruf nach ‘mehr Sicher­heit’ gehört eben­so dazu wie das Mis­strauen gegenüber Min­der­heit­en und Rechtsstaatlichen Insti­tu­tio­nen. Diverse Spitzelge­set­ze, die Staat­en offiziell erlauben, die Pri­vat­sphäre der Bürg­er zu mis­sacht­en, leg­en beredt Zeug­nis von dieser Ten­denz ab.

Es fragt sich deshalb, ob Ter­ror eher durch die Mit­tel oder durch die Ziele und die indi­rek­ten Opfer definiert wer­den soll. Wenn wir den Effekt der Finanzkrise von 2007 auf die Gesellschaft(en) der Welt betra­cht­en, so kön­nte man dur­chaus zur Fol­gerung kom­men, dass es sich dabei um einen gigan­tis­chen Ter­ro­ran­schlag gehan­delt hat.

Dabei lassen sich gewisse Dinge nur durch Indizien erah­nen, wie tödlich der Crash war. Der finanzielle Ruin hat viele Men­schen in den Ruin getrieben. Die Selb­st­mor­drate in den USA zum Beispiel hat­te seit 1999 eine sehr leicht ansteigende Ten­denz gezeigt, doch ab 2006 stieg sie viel stärk­er an, als zuvor. Dem Ein­wand, das 2006 noch keine Finanzkrise herrschte, muss dabei ent­geg­net wer­den, dass die Pri­vatkonkurse durch nicht mehr zahlbare Hypotheken, die schliesslich zum Melt­down führten, schon in diesem Jahr stark anzusteigen began­nen. Es ist beze­ich­nend für die gesellschaftliche Optik, dass der Beginn der Krise erst mit dem Zusam­men­bruch der Banken und nicht mit dem Ruin viel­er Men­schen zuvor gle­ichgestellt wird.

Geht man davon aus, dass die Hälfte der zusät­zlichen US-Selb­st­morde sei­ther auf finanzielle Prob­leme zurück­zuführen waren, dann kostete die Finanzkrise zwis­chen 2006 und 2014 ca. 4700 Men­schen­leben. Wer find­et, das sei nicht viel, soll ein­fach daran denken, dass dieses einiges über der 9/11 Opfer­zahl liegt. Und auch in anderen Län­dern ver­sucht­en Men­schen der Vere­len­dung durch den Selb­st­mord — den vor dem Hin­ter­grund solch­er Zwangsla­gen ‘Fre­itod’ zu nen­nen, mehr als zynisch erscheint — zu entkom­men. Seit Beginn der Finanzkrise stieg zum Beispiel in Griechen­land die Selb­st­mor­drate stark an. Auch hier ist die genaue Quan­tifizierung schw­er, aber zwis­chen 10 und 30 zusät­zliche Suizide pro Monat seit 2008 dürften es sein. Geht man von einem Schnitt von 20 aus, sind das 240 zusät­zliche Tote pro Jahr und bis heute fast 2000 Men­schen. Und wenn das aufgerun­det ist, muss bedacht wer­den, dass die Dunkelz­if­fer aus religiösen Grün­den in Griechen­land recht sei, diese Zahl also kaum über­trieben ist.

Nun gibt es noch weit­ere Län­der, die von der Wirtschaft­skrise hart getrof­fen wur­den: Ital­ien, Spanien, Por­tu­gal, Irland und Zypern in Europa allein. Die Opfer­zahl dürfte prob­lem­los eine  fün­f­stel­lige Zif­fer erre­icht haben. Und die Effek­te auf die Gesellschaftsstruk­turen waren und sind ver­heerend. Fam­i­lien wer­den zer­ris­sen, Kinder fürs Leben trau­ma­tisiert. Und es sind ja nicht nur die Selb­st­morde, son­dern das ganze Umfeld, das erst zu diesen Verzwei­flungstat­en führt. Es wird in Spanien zum Beispiel von ein­er ver­lore­nen Gen­er­a­tion gesprochen, die nie eine Chance hat­te und auch kaum mehr eine bekom­men wird und inter­na­tion­al kämpft der Mit­tel­stand darum, nicht nach unten abzu­rutschen.

Gle­ichzeit­ig wur­den in den Jahren nach dem Crash die Reich­sten aber noch reich­er — eine Tat­sache, die nicht nur durch Sta­tis­tiken belegt wird, son­dern auch durch den boomenden Markt für Yacht­en und Hyper-Cars im grosszügig 7stelligen Preis­seg­ment: Der Trend zum fün­fund­siebzigst-Auto hält in gewis­sen Kreisen immer noch an.  Wenn ein Grossteil der Pro­duk­tion des Bugat­ti Chi­ron zu einem Stück­preis von über 2.5 Mil­lio­nen Euro schon ein Jahr, bevor das erste Serien­mod­ell gebaut wurde, verkauft ist, zeigt das klar, dass irgend­wo sehr viel Geld steckt.

Die grösste Gefahr für die Super­re­ichen war und ist eine hohe Besteuerung der grössten Einkom­men und Erb­schaften ohne Schlupflöch­er. Solche Steuern führten Anfang des 20. Jahrhun­derts in den USA zum Etablieren der Mit­telk­lasse und auch die ‘gold­ene Zeit’ des Wirtschaftswun­ders in den 1950ern wurde von hohen Spitzen­s­teuer­sätzen begleit­et, welche es Staat­en ermöglicht­en, Geld in Infra­struk­tur und Bil­dung zu investieren. Allerd­ings sind nur starke Staat­en in der Lage, faire Steuer­sys­teme zu etablieren oder zu erhal­ten.

Doch der Crash schwächte die Staat­en. Die Boni und Gewin­nauss­chüt­tun­gen der Vor­jahre wur­den nicht für die Ver­luste her­an gezo­gen. ‘Sys­tem­rel­e­vante’ Banken mussten mit Steuergeldern gerettet wer­den, um den Zusam­men­bruch der Wirtschaft — so war zumin­d­est das Ratio­nal — zu ver­hin­dern. Sei­ther kämpfen fast alle betrof­fe­nen Staat­en mit riesi­gen Defiziten, die Ihnen von Pleit­e­banken aufge­bürdet wur­den und Men­schen ver­loren sowohl den Glauben an das Wirtschafts- als an das Polit­sys­tem. Die visionären Pro­jek­te des Vere­in­ten Europas wur­den auf ökonomis­che Inter­essen hin­unter ges­tutzt und ver­mö­gen nicht mehr, die Men­schen zu inspiri­eren — ein Rück­zug aufs nationale ist wieder in — ohne zu real­isieren, dass in ein­er glob­alen Wirtschaft glob­ale poli­tis­che Struk­turen nötig sind, um rechte gegen die Glob­al Play­ers zu erkämpfen und vertei­di­gen.

So darf man sich get­rost fra­gen, welche Ter­ror­is­ten erfol­gre­ich­er waren, mit ihren Anschlä­gen auf die west­liche Welt und ihre Werte. Die Islamis­ten mit ihrem bar­barischen Gemet­zel machen sich selb­st bei ihren ‘Glaubens­brüdern’ immer unmöglich­er, der ‘islamis­che Staat’ (eine Art Sau­di-Ara­bi­en ohne OPEC-Mit­glied­schaft) ist endgültig zum Sym­bol des bösen und hässlichen gewor­den, eine Grup­pierung, die vor allem unter Men­schen Anhänger find­et, die sich durch einen völ­li­gen Ver­lust ihres moralis­chen Kom­pass­es ausze­ich­nen und die Welt für ihre spät­pu­bertären Frus­tra­tio­nen bestrafen wollen. Islamis­ten sind bedrohlich und furchte­in­flössend, aber zugle­ich pathetisch und jäm­mer­lich.

Vor allem die let­zteren Attribute sind nicht grad jene, die man Gross­banken und Hedge­fonds unter­stellt, welche die Weltwirtschaft und die Staat­shaushalte viel­er Län­der ruiniert haben, ohne einen einzi­gen Drohne­nan­griff oder auch nur eine Ver­haf­tung ertra­gen haben zu müssen. Und dies, obwohl sie Tod, Elend und Verzwei­flung über zahllose, zufäl­lige Opfer gebracht haben, die ein­fach das Pech hat­ten, zur falschen Zeit im falschen Land zu leben.

Es wird inter­es­sant sein, wie die Jahre von 2000 bis 2020 in Hun­dert Jahren von den His­torik­ern beurteilt wer­den, wer als zer­störerischste Macht dieser Zeit gel­ten wird. Der Autor ver­mag es nicht zu sagen, aber wagt die Ver­mu­tung, dass das Urteil bei weit­em weniger klar aus­fall­en wird, als es derzeit die meis­ten denken.

 

 

 

 

Bild: Wikipedia

Artikel online veröffentlicht: 4. Oktober 2016 – aktualisiert am 5. Juni 2020