Von Stephan Fuchs - Man kennt es: Die ersten Opfer einer städtischen Sparmassnahme sind Kultur und Bildung. Eigentlich erstaunlich, denn man weiss auch: Kultur und Bildung sind die Fundamente einer Gesellschaft. Vielleicht vorausahnend reichten am 15. Februar 1993 neun grosse kulturelle Berner Institutionen bei der Stadtkanzlei mit satten 63‘562 Unterschriften eine Petition ein. Mit ihr wurde der Gemeinderat ersucht, die geplanten Sparmassnahmen in einem für die Institutionen vertretbaren Rahmen zu halten. Nahezu gleichzeitig, während die Vorbereitungen der „Grossen 9“ für deren Petition anliefen, wurde am 17. September 1992 auch ein parlamentarischer Vorstoss eingereicht, der unter anderem ein „Kulturkonzept“ forderte.
Der Stein kam ins Rollen, der zweite Anstoss dazu gab der Gemeinderat. Er setzte eine Kulturdelegation und eine Arbeitsgruppe mit den Vertretern der „Grossen 9“ an den Tisch und erarbeiteten aufgrund dieser Gespräche ein städtisches Kulturkonzept. Das war im Oktober ’93. Nach intensiven Auseinandersetzungen wurden die vom Gemeinderat vorgeschlagenen kulturpolitischen Ziele und Massnahmen in der Vernehmlassung mehrheitlich gutgeheissen. Das Ergebnis ist das Konzept des Gemeinderates unter dem Titel: „Die Kulturpolitik der Stadt Bern für die Jahre 1996 — 2008“.
Das Konzept für die Jahre 1996 — 2008 ist, unabhängig der politischen Machtkonstellation der Stadt, Richtschnur und Ankerpunkt zugleich. Ist Garant für das Überleben der kulturellen Institutionen um den kulturellen Bedürfnissen der BernerInnen gerecht zu werden. Freilich ist das, in einer mittelgrossen Stadt wie Bern mit 130‘000 EinwohnerInnen die in einer Agglomeration mit ihrerseits rund 200‘000 Menschen liegt, ein schweres Unterfangen. Bern hat eine dichte, vielfältige, innovative und qualitativ hoch stehende kulturelle Tradition. Nicht nur: Bern ist die Bundeshauptstadt und demzufolge auch seinen BesucherInnen ein kulturelles Erbe und Erlebnis. Die Absichten des Gemeinderates sind dementsprechend weit gefächert. Das Konzept sieht vor, die Kulturpolitik zu einem festen Bestandteil der Stadtpolitik und der Entwicklung der Stadt zu machen. Dass sich die Stadt Bern gerade auch in Zeiten ausgesprochener Finanzknappheit kulturell nicht nur ein Minimum leisten darf. Es soll den Möglichkeiten entsprechend darauf hin gewirkt werden, dass Bern ein Lebensort ist, wo Kulturschaffende gebraucht werden und Kultur die Weiterentwicklung mitgestaltet. Man soll das Zeitgenössische Kulturschaffen fördern, Entscheide und Massnahmen im Bewusstsein treffen, dass sie Auswirkungen auf das kulturelle Klima der Stadt haben. Durch Partnerschaft zwischen Bevölkerung, Kulturschaffenden, Veranstaltern und Vermittlern müssten Beziehungsnetze hergestellt werden. Auch und das wird nächstes Jahr wichtig, darauf hinzuwirken, dass Kulturförderung eine gemeinsame Aufgabe von Stadt, Agglomeration und Kanton ist und der Bund seine Verantwortung gegenüber der Bundesstadt wahrnimmt.
Dieser letzte Punkt hat eine auf die gesamte Schweiz ausstrahlende Brisanz. Bern sieht sich, durch das Prädikat Bundeshauptstadt auch als Kulturstadt. Und das zurecht, denn Bern nimmt auch ihre Stelle als Brückenbauer zwischen der französisch, italienisch, rätoromanisch und deutschen Kultur und Sprach Identität wahr. Nicht nur, durch unsere Gäste der diplomatischen Vertretungen ist auch das Augenmerk der ganzen Welt auf Bern gerichtet. Bern hat, wie andere Hauptstädte auch, den „Capitol“ Tourismus. Bundeshaus, Bundesplatz und dabei den Politikern beim Gipfeli knabbern zuschauen, nationale Museen, das Weltkultur Erbe, Galerien, Museen von Rang und Namen, renommierte klassische Orchester, Theater, Ballett, Jazz vom feinsten, eine spannende freie Szene im Bereich Tanz und Schauspiel, Puppentheater und die berühmten wie charmanten Keller mit Kino, Schauspiel und Musik aller art, die weit über die Stadt und die Kantonsgrenzen hinaus bekannten und beliebten kulturellen Oasen wie die Dampfzentrale, Gaswerk, Wasserwerk oder die Reitschule mit vielfältigem Programm. Um diese Leistung, auch gegenüber der Schweiz zu erbringen, gehört sich eine breite Kultur Palette und dafür soll der Bund sich finanziell beteiligen. Die Bundesgelder, es geht um einen jährlichen Beitrag von 900‘000 — 5 Millionen Franken, kommen den kulturellen Institutionen zu. Wirtschaftlich drückt sich die kulturelle Vielfalt, auch die Besucher der Reitschule gehören dazu, positiv in Übernachtungen, Verpflegung, öffentliche Verkehrsmittel, Restaurants, Einkaufsläden et etc. aus.
Nicht zu vergessen: Die Aare, die wunderschöne, das Marzili Bad, der Gurten, unsere Landschaft, die verborgenen Winkel die zum entdecken einladen… Auch das ist Kultur und ein Anreiz. Ganz simpel gesagt: Ohne kulturelle Anreize weniger Besucher, weniger Geld, weniger Arbeit. Zu diesem Schluss kommt auch das Konzept des Gemeinderates. Die Überlegung findet sich bereits auf der ersten Seite des Berichtes: „Bundesstadt und Region bilden eine kulturelle, wirtschaftliche, ökologische Schicksalsgemeinschaft“. Und auf Seite 8 steht: „Wie sich Menschen begegnen, welche Werte und Ziele ihnen wichtig sind, welche Verantwortungen sie wahrnehmen, wie sie ihr Zusammenleben organisieren, Rechte und Pflichten ausgestalten, sind kulturelle Fragen. Was und wie in der Wirtschaft produziert wird, wie man mit der Mitwelt umgeht, wie mit der Umgebung, mit Land, mit Pflanzen, mit Tieren, sind Bestandteile des kulturellen Bewusstseins. Kultur ist die Summe aller schöpferischen Kräfte der Einzelnen und der Gemeinschaft. Sie stiftet Sinn und Lebensqualität und hilft Identität bewahren. Sie ermöglicht die Entwicklung auf autonome und gesamtgesellschaftliche Entscheidungen hin sowie die Bereitschaft zu notwendigen Veränderungen. Kultur hat auch eine historische Dimension, sie führt uns zurück zu den Wurzeln unserer Gesellschaft.“
Das tut sie. Ob in der Reitschule, im Alpinen Museum oder im Stadttheater. Kultur ist per se nicht schlecht und schon gar nicht über den Daumen gepeilt des Terrorismus zu verdächtigen und sie ist auch nicht durch zwei dividierbar. Also in etablierte und nicht etablierte Kunst. Dass Kultur mehr beinhaltet als die politischen Programme einzelner Exponenten hat das Kulturkonzept 1996 — 2008 richtig und wegweisend weitsichtig so umschrieben: „Das kulturelle Erbe und das jeweilige zeitgenössische Kulturschaffen liefern Impulse für Erneuerung und für innovatives Denken auf allen Gebieten. Zwar ist auch diese „Kultur im engeren Sinne“ kein Allerweltsheilmittel gegen ungelöste gesellschaftliche Konflikte; aber sie lässt Aufmerksamkeit und Sensibilisierung gegenüber anstehenden Problemen wachsen. Kultur mobilisiert die Phantasie und zeigt ausserhalb der Konvention Ansätze für alternative Lösungen. Sie hilft einer Gesellschaft, Voraussetzungen zu finden für ein sinnvolles und flexibles Angehen von Gegenwart und Zukunft. Sie bildet die Grundlage für die Lebensqualität einer Gemeinschaft. Sie führt zu solidarischer Haltung gegenüber lokal, national oder weltweit anstehenden Problemen.“ Um das unter anderem zu erreichen, werden mit den kulturellen Gruppen und Institutionen mehrjährige Subventionsverträge abgeschlossen; mit Projekten von Kulturschaffenden, Vereinen und VeranstalterInnen. Der Gemeinderat unterstützt kulturelle Initiativen abgesehen von Geld auch bei der Raumsuche, im Billigungswesen, beim Sponsoring und beim Schaffen von Kontakten. Die Kulturverträglichkeit wird durch Massnahmen der gegenseitigen Toleranz erweitert. Kulturverträglichkeit verlangt auch den Sinn für das humane Engagement in öffentlichen Dingen zu wecken und soll die Engherzigkeit im Umgang mit Menschen und Kunst verhindern. Daraus ergibt sich eine logische Verknüpfung in den bereichen Bildung, Kultur, Sport und Freizeit, Wirtschaft, Ökologie und Sozialem.
Kunst zu verstehen ist bekannter weise nicht immer ganz einfach. Kann und muss auch nicht sein. Die Autoren des Konzeptes wissen um diese Dramatik, wenn sie schreiben: „Das künstlerische und kulturelle Schaffen kann vom Gemeinwesen weder je ganz verstanden, noch in der Gesamtheit gerecht und rechtzeitig gefördert werden. Was wirklich neu und einzigartig ist, wirkt im Entstehen oft so fremd, dass es in seiner Bedeutung nicht ohne weiteres erfasst zu werden vermag.“ Deren Beispiele gibt es genug. Eines hiervon ist Klee. Auch kann Kunst nie in den Griff bekommen werden. Selbst eine von Joseph Goebbels injizierte Säuberung der „entarteten Kunst“, in den 30 er und 40 er Jahren, vermochte die Kunstschaffenden nicht zu brechen. Inhalte und Formen gehören den Künstlern, die Verzauberung und die Gedanken dem Betrachter. An der Stadt liegt es einzig, beiden Beteiligten die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Aus diesen Überlegungen erwuchs die Bereitschaft, Kultur ohne politische Zwänge zu subventionieren und ein kreatives Arbeiten in den unterschiedlichsten Zweigen zu ermöglichen. Dies beruht, im Interessen aller, auf einem Leistungsausweis der Institutionen und daraus resultierenden, jeweils vier jährlich wiederkehrenden, Verträgen zwischen Stadt und den Kulturinstitutionen sowie anderen Partnern. Dazu gehört auch, dass bei einer jährlichen Mindestbeteiligung der Stadt von 500‘000 Franken, eine Vertretung des Gemeinderates Einsitz in das Gremium der Institution haben kann. Die künstlerische Freiheit des Betriebes soll dabei gewahrt werden, aber die Verwendung der Gelder für die Geber nachvollziehbar sein.
Rundum eine wegweisende Schrift, die unter der Regie des ehemaligen Kultursekretär Peter J. Betts, ausgearbeitet wurde. Über die lange Periode, immerhin 12 Jahre, können so sinnvolle Projekte und kulturelle Häuser verschiedenster Couleur eine Langzeitstrategie aufbauen und sind nicht der scharfen Gischt politischer und wirtschaftlichen Brandungen ausgeliefert. Jeder der sich im Schlachtfeld der freien Marktwirtschaft durchkämpfen muss, rauft sich aufgrund solcher Verträge natürlich die Haare wenn man davon ausgeht, dass auch kulturelle Institutionen Marktgerecht arbeiten müssten. Einige tun das, andere wie das Stadttheater, Symphonieorchester oder die Dampfzentrale, die auch hunderten von Menschen Arbeit geben, könnten wegweisende Produktionen in höchster Qualität gar nicht mehr anbieten. Kulturgelder sind, wie auch Bildungsgelder, weit mehr als einfach „enorme Summen verschwendeter öffentlicher Gelder“. Geld für die Kultur ist ganz klar eine Investition in die Zukunft. Nicht nur in Künstler und Häuser. Es ist eine Investition die Zukunft einer breiten Bevölkerung, einer Stadtentwicklung, einer gesunden wirtschaftlichen Stadt und Region und nicht zuletzt auch in die Zukunft der Identität als Mensch.
Bild: «mein Kindermädchen» von Meret Oppenheim, zVg.
ensuite, September 2004