Von Benedikt Sartorius - In der Ferne schlurft untermalt von Grillenzirpen ein karger Rhythmus und nähert sich, als eine traurige Hawaiigitarre einsetzt. «Trust in me and close your eyes…» Verführend langsam und unnachgiebig entführt die verzerrte Stimme sein Opfer tief in eine absonderliche Zwischenwelt, wo das süsse Gift einlullt, die Trompete aufbellt, die Orgel zwirbelt und eine verlorene Seele sich widerstandslos hingibt. «Slowly and surely your senses will cease to resist…»
Die Interpretation von «Trust In Me» wie überhaupt das musikalische Drehbuch der Dead Brothers kennt anders als das Dschungelbuch, aus dem dies Lied der Schlange im Original stammt, keine Rettung. Leidenschaftliche Hingabe, lieben, schwelgen, weinen, tanzen, trinken und lachen im Angesicht des Sensemanns stehen beim Hörer und Besucher dieser schillernden Welt auf dem Programm. Als Begräbnisorchester starteten die Dead Brothers 1998 mit Heimbasis Genf ihre Reise ins Jenseits im Rahmen der Rock ‘n‘ Roll Parade«ElectricCircus».SievertilgtenunterwegsHank Williams in einer Rumpelkammer, liehen im Pfandladen ihr Instrumentarium, krachten mit rohem Punk, Delta Blues und europäischen Volksmusiken zusammen, enterten mit Gleichgesinnten das Juraschiff an der Expo und drangen bis in die so genannte Hochkultur als Theaterband vor (u. a. Brechts Dreigroschenoper in Basel).
Nach den Alben «Dead Music For Dead People», «Day Of The Dead» und dem instrumentalen Soundtrack zum Dokumentarfilm «Flammend Herz» öffnet nun das fabulöse Quartett zum vierten Mal den Sarg. Ein Sarg freilich, der sich als unaufgeräumte, kuriose, tiefe und arg verwinkelte Wunderkammer herausstellt. «Wunderkammer» ist denn auch der fast schon programmatische Titel des dritten regulären Albums der interkontinentalen Dead Brothers. In jeder Ecke und jedem Winkel lauern neue Falltüren, die tiefer ins Labyrinth einer funkelnden Unterwelt führen. Einer Unterwelt, die so gar nichts Morbides an sich hat, eher wie ein abenteuerlicher Spielplatz streunender Melancholiker wirkt und allenfalls mit den Phantasien in Tim Burtons wunderbarem Film «Corpse Bride» vergleichbar wäre.
«Wunderkammer» ist das bisher reichste Album der Dead Brothers. Im Kollektiv schrieben Alain Croubalian, Pierre Omer, Delaney Davidson und Christoph Gantert die neuen Lieder, projizierten eigene Visionen in fremdes Liedgut und schufen vielschichtige Arrangements für ihre von verschiedensten Stilen durchzogene, weltumspannende Musik. Wurde «Dead Music For Dead People» der Legende nach mit nur einem einzigen Mikrophon aufgenommen, loten die Vier nun im freien Spiel mit den Möglichkeiten des Studios neue, tiefe Dimensionen ihrer Musik aus. Ohne die Rohheit der ersten Alben aufzugeben, pflegen sie die Liebe zum musikalischen Detail: Windsägen heulen im Hintergrund, exotische Stimmen tauchen auf, SpelunkenKlaviere malen verschwommene Stimmungsbilder und ergänzen das knorrige Stamm-Instrumentarium der Band (Banjo, Akkordeon, Gitarre, Blasinstrumente, Perkussion) aufs vorzüglichste. Traumwandlerisch eingesetzte Studio-Kniffe und Zitate wirken nie verschwenderisch, nie beliebig, der multiinstrumentale Charakter der einzelnen Musiker wie auch die Band als Kollektiv gewinnen deutlich an Tiefenschärfe. Und so labt sich der Hörer am kaputten, knochentrockenen Punk von «My Baby‘s White», trinkt im Bistro zu chaotischem Zigeunerjazz à la Django Reinhardt, steht im grossartigen «Just A Hole» lebensmüde an seinem eigenen Grab und landet in «The Story Of Woody And Bush» in einem staubigen Westernsaloon, der sich in eine psychedelische Halluzination auflöst. Kurz: Die rauen und doch zerbrechlichen, melancholischen und doch lachenden, widerspenstigen und doch einladenden Dead Brothers schlagen dem zagen Alltag einmal mehr ein Schnippchen.
Im Januar wird überdies der Film «He Who‘s Not Busy Being Born Is Busy Dying» lanciert. Der Regisseur M. A. Littler, der bereits für das Portrait über die musikalische Heimat der Band, dem heimischen Voodoo-Rhythm Label, verantwortlich zeichnete, begibt sich mit den Dead Brothers auf die Suche nach dem verbindenden Kern des Universums. Eine ewige Suche, die die vier beseelten, rastlosen Musiker mit ihrem Drang zur Kreation vorläufig in die traumhafte, surreale Wunderkammer führte. In eine Wunderkammer, die ohne Frage den ersten musikalischen Höhepunkt des neuen Jahres darstellt.
Discographie:
«Dead Music for Dead People»
2000
LP/CD Voodoo Rhythm Records
«Day of the Dead»
2002
LP/CD Voodoo Rhythm Records
«Flammend’ Herz»
2004
LP/CD Voodoo Rhythm Records
«Wunderkammer»
2006
LP/CD Voodoo Rhythm Records
«The 5th Sin Phonie»
2010
LP/CD Voodoo Rhythm Records
«Black Moose»
2014
LP/CD Voodoo Rhythm Records
Bild: Mischa Scherrer, zVg.
ensuite, Januar 2006