Von Lukas Vogelsang - Ich gestehe es, ich habe die Szene nicht einmal im Fernsehen gesehen, sondern nachträglich auf www.youtube.ch. Ich schaue generell kein Fernsehen mehr und muss daher nicht mehr darüber herziehen. Nicht so, wie der alte Marcel Reich-Ranicki, der den Deutschen Fernsehpreis hätte erhalten sollen und diesen jetzt nur anstands- und altershalber zu Hause stehen hat. Der alte Mann konnte sich ja kaum dagegen wehren.
Dabei ist Marcel Reich-Ranicki ganz einfach ehrlich gewesen. Er hat auf der Bühne in der Live-Sendung des Fernsehpreises ganz einfach gesagt, was ein 88-jähriger über das Fernsehen denken muss. Einer, der das Fernsehen in seiner ganzen Entwicklung miterlebt hat. Einer, der vom Schwarz-Weiss-Denken den Schritt zur Farbe miterleben konnte. Einer, der das Wort «Fernsehserie» erst miterfinden musste. Erinnern wir uns doch an die alten Wochenschau-Kinos, womöglich noch mit Pianobegleitung. Ok, das ist jetzt etwas sehr nostalgisch. Aber wer von da den Schritt zum heutigen TV-Programm macht, muss krank werden. Zwangsläufig.
Und da stand also dieser Marcel Reich-Ranicki, ein Literaturliebhaber (seine Sendung heisst «Das literarische Quartet») und schockte die ganze Promi-TV-Gesellschaft und vor allem deren DirektorInnen. Zunächst hielt man seine Preis-Ablehnung für einen Witz. Man grinste und kicherte nur. Ein paar wenige ältere Herren und Damen grinsten nicht — auch nicht, als der Saal applaudierte und klar war, dass Reich-Ranicki allen die Hosen runtergezogen hatte. Das hat mich beeindruckt. Diese älteren Menschen hatten — so denke ich — ein Licht gesehen und ich glaube, es war sowas wie Dankbarkeit und Verständnis in ihren Augen. Das kann man nicht mit Lachen und Klatschen — und mit Kaugummi im Mund (!) — einfach wegstecken. Dieses lärmige Gezappel folgte nicht aus Respekt, sondern aus Hilflosigkeit.
«Es ist unglaublich, dass so etwas gesendet wird», so der alte Literaturmann zu den prämierten Fernsehsendungen. Er, der noch eine der wenigen Sendungen im deutschsprachigen Raum produzieren darf, die spätnachts die letzten Intellektuellen über Wasser halten. Die Fernseh-DirektorInnen sehen sich sowas sicher nicht an. Für sie ist ein alter Reich-Ranicki nur eine gute Rechtfertigung für den restlichen Mist, den sie über den Sender lassen — billig eingekauft oder billiger produziert. Reich-Ranicki ist Pensionär mit einem spannenden Hobby — der kostet nicht mehr viel. Und Fernsehen ist ein Geschäft, kein Bildungsprogramm. Fernsehen muss rentieren, nicht informieren. Wenn wir die Wetterprognosen sehen, müssen wir gut unterhalten sein. Da spielt es keine Rolle, dass wir überhaupt nicht verstehen, wovon der junge Schnösel vor dieser Kamera eigentlich spricht. Vom Wetter sicher nicht.
Quoten, Leser- oder Zuschauerwünsche — das ist die grosse Lüge der Medienbetriebe. Der Trick ist ja einfach: Die Fernsehgesellschaften (und das gilt übrigens auch für Radio- und Printmedien) lassen uns nur scheinbar wählen. Das Angebot besteht aus Müll 1, Müll 2 und Müll 2 — bitte wählen sie. Und weil das Publikum Müll 2 wählt, weil nichts anderes noch schlechter ist, erzählt man uns: «Das Publikum wünscht Müll 2.» Niemand erzählt uns, dass die meisten Medienstudien schon längst eingestellt worden sind und kaum noch ernst zu nehmende Qualitätsdaten aufweisen. Es wäre schon längst fällig, dass mehr Menschen sich öffentlich über diese Massenverblödungsintrumente auslassen. Dafür bräuchten wir eigentlich nicht Pensionäre. Wann wurden Sie zum Beispiel ernsthaft zu einem Medium befragt, nach Inhalt, Qualität, Erwartungen, Wünschen? Niemand erzählt uns, wie viele Menschen wirklich bei Studien mitmachen oder wie viele bei Quotenerhebungen wirklich gefragt worden sind; die meisten sind ja nur Hochrechnungen. Und diese werden FÜR die Fernsehbranche gemacht, damit die Werbung weiterhin Geld investiert.
Ich wünsche mir viel mehr Reich-Ranickis. Menschen eben, die den Mund aufmachen und sagen, was sie wirklich denken. Solche, die keine Angst haben, dass sie nicht mehr «dazugehören» könnten, weil sie ihre Meinung sagen. Menschen, die eigentlich verzweifeln an unserer «Ach-so-Sauglattomania». Eben, wie Reich-Ranicki: «Ich dachte mir, was mach ich hier. Schliesslich kam ich dran, weil ich gesagt habe, ich geh jetzt weg. Nein, nein, sagte der Intendant, um Gottes willen, machen Sie uns keinen Skandal!»
Aus der Serie Von Menschen und Medien
Cartoon: www.fauser.ch
ensuite, November 2008