Von Hanân al-Shaykh (London) - Während der Zug mich alle zehn Minuten woandershin brachte — nach Bangladesch, China oder Amsterdam, nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Staaten -, überlegte ich: Wie hätte ich diesen Tag, den 29. April, wohl verbracht, wenn ich noch immer in Beirut lebte? Hätte ich voller Schmerzen an die Tage des Krieges gedacht? Jenes Kriegs, der uns gleichsam die Verantwortung darüber abgenommen hatte, wie wir unsere Tage verbringen mussten, nachdem er die Stadt und die ganze Aussenwelt verschlungen, die Menschen und die Dinge in seinen Flammen verzehrt und jedes Metall zerschmolzen hatte […]. Damals war mir das Schlagen meines Herzens zu einem Wunder geworden, ein flüchtiger Gedanke war mir wie eine höhere Eingebung erschienen. — Doch jetzt muss ich vergessen, mich zusammenreissen und ins normale Leben zurückkehren, als sei nichts gewesen. Oder hätte ich das Ende des Krieges als einen Segen empfunden? Mich dazu beglückwünscht, noch am Leben zu sein, und gleichgültig die Achseln gezuckt, wenn bestimmte Minister der neuen Regierung im Fernsehen zu sehen gewesen wären — obwohl ich einen Moment lang wie gebannt war, als ich sie auf dem Bildschirm erblickte: ich dachte, man würde nun über ihre abscheulichen Verbrechen zu Gericht sitzen. — Doch ich bin jetzt weit weg: sitze in einem Zug, der mich von «Tower Bridge» nach «Canary Wharf» bringt. […] irgendwohin, weit, weit weg von meiner libanesischen Heimat, die ich vor achtzehn Jahren verlassen habe […], um in ein Land zu gehen, welches mir vollkommen unbekannt war […].
Bei meinem letzten Besuch in Beirut ging ich zwischen Betonbrocken umher, die wie Reben an ihren Stahlträgern hingen, von diesen am Zusammenbrechen gehindert; zwischen Nachtclubs, […] Lichtern und Postern von Sängern und Sängerinnen […]. Als ich mich schliesslich niedersetzte, dachte ich nicht mehr an die Türen, hinter denen sich meine Kindheit abgespielt hatte. Der Rauch der Kaffeehäuser, die Stufen im Gebäude der Zeitung, bei der ich gearbeitet hatte, meine Freundin und die anderen Zeugen meiner Kindheit und Jugend — all das war mir gleichgültig und ich wollte entfliehen. Ich fasste mich aber wieder, als ich schliesslich zum ersten Mal den Grabstein auf dem Grab meines Vaters berührte. Ich flüsterte: «Wir haben uns gegenseitig Unrecht getan, denn wir haben nicht miteinander geredet.» Als ich mich wieder erhob, war es mir, als würden meine Empfindungen, meine Zugehörigkeiten und Bindungen wie Getreidekörner von einem Mühlstein zermalmt, und ich empfand eine verzehrende Scham. […]
Schliesslich hält der Zug vor verschiedengestaltigen Wolkenkratzern, deren Fenster mit dem Aschgrau der Wolken zu harmonieren versuchen. […] Ich bemerke das Gesicht meines englischen Bekannten. Obwohl er englisch aussieht und reines Englisch spricht, fühle ich mich von ihm erneut in den fahrenden Zug versetzt […] Vor einiger Zeit hatten wir über das Gefühl der Entfremdung gesprochen, das wir beide empfinden, wenn wir in London sind. Aber eben da sind wir nun, und an einem Tisch auf einem Boot, das man zum Restaurant umgestaltet hat, setzen wir unser Gespräch von damals fort, so als solle diese Atmosphäre uns versichern, dass wir uns an keinem bestimmten Ort befinden und nur durch unsere Gespräche und durch unsere Anteilnahme ein Teil von London sind. Denn diese Umgebung schien ausserhalb von «hier» und «dort» zu liegen, bog sich wie eine verwelkende Tulpe, die nicht weiss, in welche Richtung sie ihren Lebensgeist aushauchen soll. […]
Nach meiner Fahrt durch London kehre ich an diesem Tag glücklich zurück in die kleine Nische, die ich dort gefunden habe. Hier schreibe ich ein Theaterstück und fühle mit den Figuren, die wie ich fern ihrer arabischen Heimatländer leben, manche in armen, einfachen Behausungen, manche in vergoldeten, bequemen Gemächern. Ich teile mit ihnen die Gefühle der Verlorenheit, der geistigen und materiellen Unsicherheit, der Einsamkeit, des Älterwerdens, der Verwunderung. Wie ich sind auch sie gezwungen, das Auseinanderbrechen der Familien und den Verlust der Wurzeln zu ertragen. Ich mache ihnen einen Papagei zum Geschenk, der seine Erinnerungen nicht verliert, und widme ihnen einen Schwarm sanftmütiger englischer Tauben, die von den Speisen der Araber kosten. In der Nacht, bevor mich die Dunkelheit zu sich holt, merke ich, wie ich die Augen schliesse und mit meinen Kolleginnen aus der Grundschule zu den Ruinen von Baalbek fahre. Während ich mich in den Schlaf hinübersinken lasse, trägt mich der Bus an Orte, die mir vertraut sind. Ich bin glücklich, denn ich sehe und erinnere diese Orte, als ob ich nie fortgegangen wäre. Ich bin glücklich, über die Wärme, und über die sanfte Brise, die damals durch unsere Kehlen strich, wenn wir unsere Münder öffneten, um zu singen.
Aus dem Arabischen übersetzt von Olaf Walter
© Hanân al-Shaykh
Hanân al-Shaykh
Die libanesische Autorin Hanân al-Shaykh ist 1945 in Beirut geboren, arbeitete dort zunächst als Journalistin und verliess 1975 infolge des Bürgerkriegs ihre Heimat. Sie gilt als eine scharfe Beobachterin gesellschaftlicher Phänomene, welche sie sensibel, aber mit unerbittlicher Klarheit beschreibt — ohne Scheu vor Tabus, weshalb ihre Bücher in einigen arabischen Ländern verboten sind. Seit sie in London lebt, setzt sie sich auch mit den Lebenswelten der dortigen arabischen Einwanderer auseinander. Hanân al-Shaykh hält sich im Rahmen der internationalen Tagung zum Thema «Denkplatz Diaspora/Exil — Innovative und kreative Impulse von AutorInnen aus dem Nahen und Mittleren Osten» vom 16.–19. März 2005 in Bern auf. Mit dem Konferenzprogramm am Freitag (18. 3.) richten sich die Veranstalter auch an die interessierte ausserakademische Öffentlichkeit.
Bild: zVg.
ensuite, März 2005