• zurück

Evidenzbasierte Politik

Von Patrik Etschmay­er - Entschei­de soll­ten eigentlich auf­grund von möglichst vie­len Tat­sachen getrof­fen wer­den. Wer das Leben basierend auf Wun­schdenken plant wird über kurz oder lang Prob­leme bekom­men — und zwar mit der Real­ität. Doch das scheint viele Men­schen nicht zu beein­druck­en.

Wenn es um Medi­zin geht, wird mit jed­er Menge — teils gefährlichem — Blödsinn rumpro­biert. Ob nun Homö­pathie oder Bach­blüten, Geis­theilung und Mag­nethopathie und, ganz prob­lema­tisch, die

Impf-Autismus-Lüge: Viele Leute bevorzu­gen absurde Google-Resul­tate und Ratschläge von Face­book-Grup­pen, die Chem­trails und die Hohler­den­the­o­rie propagieren, wenn es um die eigene und die Gesund­heit von Kindern und Fam­i­lie geht.

Als Beloh­nung gibt es dafür viel Unter­stützung durch die ‘Fre­unde’ in der Face­book-Gruppe und vielle­icht eine tödliche Infek­tion­skrankheit für das eigene Kind oder ein anderes, das angesteckt wird. Noch prob­lema­tis­ch­er wird es, wenn Poli­tik­er auf den Zug der Wohlfühl-Medi­zin auf­sprin­gen und mit für das Ein­schliessen wirkungslos­er Place­bo-Behand­lun­gen in der Krankenkas­sen­grund­ver­sorgung kämpften und so magis­ches Denken (Des­til­liertes Wass­er ohne eine Spur des Wirk­stoffs, auf bes­timmte Art geschüt­telt, ist ein Heilmit­tel…) über eine Volksab­stim­mung in die Geset­ze rein brin­gen.

Doch eigentlich sollte man sich nicht darüber wun­dern. Denn viele Poli­tik­er haben Prob­leme mit Fak­ten. Dies ist auch leicht erk­lär­bar, denn so manche® kämpft für eine Vision ein­er — seiner/ihrer Ansicht nach — per­fek­ten Welt. Real­itäten behin­dern da nur den Gedanken­flug. Eine neue Gesellschaft­sidee, die es so noch nicht gab, lässt sich logis­cher­weise nicht anhand von beste­hen­den Fak­ten ver­i­fizieren.

Doch meis­tens krankt es ja schon auf dem Weg, lange bevor das Ziel nur in Sicht ist. Uner­füll­bare Ver­sprechen wer­den gemacht, Sta­tis­tiken wer­den ignori­ert oder solange geschüt­telt, bis die Zahlen so ausse­hen, wie man sie gerne haben will. So ist es zwar völ­lig klar, dass das gegen­wär­tige Renten­sys­tem irgend­wann nicht mehr funk­tion­ieren kann doch es wird die von lib­eralen vorgeschla­gene Lösung, das Rentenal­ter der steigen­den Lebenser­wartung gemäss nach oben hin anzu­passen, nicht hin­hauen — nicht zulet­zt, weil sowohl Pen­sion­ssys­tem als auch Arbeits­markt da nicht mit spie­len. Die bekan­nten Fak­ten ver­lan­gen ganz klares Han­deln — aber eines, das ausser­halb der momen­ta­nen ide­ol­o­gis­chen Leit­planken zu liegen scheint.

Oder nehmen wir den Kli­mawan­del: Während ein gross­er Teil des poli­tis­chen Spek­trums die wis­senschaftlichen Fak­ten akzep­tiert hat (so ziem­lich alle von links bis Mitte rechts), wird an der recht­en Ecke immer noch an Ver­schwörungs­the­o­rien geschraubt und völ­lig scham­los behauptet, dass sich tausende Kli­mawis­senschaftler, Physik­er und Math­e­matik­er, die an den Kli­mamod­ellen arbeit­en, gegen die Gesellschaft ver­schworen hät­ten. Grund: nur um an Forschungs­gelder zu kom­men. Als Beweis wir gerne ange­führt, dass Forsch­er, die den Kli­mawan­del abstrit­ten, keine staatlichen Förderungs­gelder bekä­men. Aber vielle­icht liegt das auch daran, dass Forschung­spro­jek­te, die ihre Roh­dat­en aus geschlosse­nen Inter­net­foren und der Fan­tasie der Autoren beziehen, welche die  Voraus­set­zung für eine Förderung nicht erfüllen. Wenn die Real­ität der Ide­olo­gie wider­spricht, wird eben häu­fig nicht die Ide­olo­gie angepasst, son­dern die Wirk­lichkeit geleugnet.

Ein gross­es Prob­lem ist natür­lich jenes, dass Poli­tik­er sich immer lieber ihren Wäh­lern andi­enen, statt zu ver­suchen, den Wäh­lern die Real­ität näher zu brin­gen. Wenn also Äng­ste herrschen, kön­nen Poli­tik­er am besten damit gewin­nen, diese zu ver­stärken und sich als Bekämpfer genau jen­er Phänomene aufzus­pie­len, die Angst machen, statt diese in einen real­is­tis­chen Kon­text zu stellen. Wenn in der Schweiz die Burkaver­botsini­tia­tive von ein­er grossen Partei lanciert wird, sollte man eigentlich davon aus­ge­hen kön­nen, dass das Bur­ka- und Hid­jab-Tra­gen in der hiesi­gen Öffentlichkeit ein ern­sthaftes Prob­lem gewor­den ist. Experten schätzen aber, dass es in der Schweiz etwa ein bis zwei Dutzend ver­schleierte Mus­lim­in­nen gebe. Eine Ini­tia­tive, die am Ende Mil­lio­nen Kosten wird, um zwei Dutzend Frauen von den Strassen zu ver­ban­nen, die nicht nie­man­dem einen Schaden zufü­gen, entspricht nicht wirk­lich fak­ten­basiertem Han­deln, son­dern viel mehr der Kreation eines Mück­enele­fan­ten.

Aber diese Ini­tia­tive ist ein aus­geze­ich­netes Beispiel, an dem sich demon­stri­eren lässt, warum Fak­ten in der Poli­tik immer weniger zu suchen haben: Es wird vor allem mit Gefühlen — vorzugsweise Angst und Wut — gear­beit­et. Dazu mit der frag­ilen Iden­tität der Wäh­ler, die in den Zeit­en des aushöh­len­den Mate­ri­al­is­mus (die Frage ist nicht mehr: human­is­tisch oder religiös? — son­dern iPhone oder Android?) sich auf völkische-eth­nis­che Hüllen-State­ments zu beschränken scheint und Anspruch auf die totale Selb­st­bes­tim­mung erhebt. Der­weil wird der Infor­ma­tion­shor­i­zont vom Fil­ter­al­go­rith­mus von Face­book abgesteckt.

So ist es denn auch kein Wun­der, dass poli­tis­che Real­is­ten immer weniger auf der Bühne der Macht zu find­en sind: Wer glaubt, mit einem Fin­ger­wis­ch­er die Real­itäten der Welt beseit­i­gen zu kön­nen, wird nicht Stun­den damit ver­brin­gen, sich wider­sprechende Berichte so abzu­gle­ichen, so dass am Ende ein belast­bares Bild des Prob­lems entste­ht. Ein solch­es Vorge­hen im Zeital­ter der Stream­line-News­feeds und New­st­weets dem Wäh­ler ver­mit­teln zu wollen, hat eben etwas fast schon rührend nos­tal­gis­ches an sich.

So muss man sich fra­gen: Ist die fak­ten­basierte Poli­tik am Ende? Vielle­icht schon. Doch der Hak­en ist: Real­ität ist am Schluss immer noch das, was wirk­liche Real­ität ist. Und wer diese ignori­ert, bekommt es früher oder später mit ihr zu tun. Ganz egal, ob man an sie glaubt oder nicht.

 

Bild: Ein “Beweis” für Chem­trails / Foto: unbekan­nt

 

 

Artikel online veröffentlicht: 2. September 2016 – aktualisiert am 4. Oktober 2016