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Ferienzeit und andere Wirrnisse

Von Patrik Etschmay­er - Ferien­zeit war ein­mal die Zeit, in der nichts mehr lief. Poli­tik­er waren in den Ferien und ver­sucht­en nicht, die Welt zwis­chen Mitte Juli und Ende August zu ver­nicht­en, Arbeit kon­nte ein­fach liegen gelassen wer­den und sah nach der Rück­kehr kein biss­chen schlechter aus als zuvor, und es fiel auf, wenn regionale Tageszeitun­gen auf ein­mal nur noch aus zwei Bün­den bestanden statt wie üblich deren vier. Das Leben, das ohne­hin ein gemäch­licheres Tem­po zu haben schien als heute, ver­langsamte sich noch mehr.

Ein Grossteil dieser Erin­nerun­gen an die 70er und 80er Jahre des let­zten Jahrhun­derts ist natür­lich Kokolores. Das Fall­beil des atom­aren Holo­causts hing über uns an 365 Tagen im Jahr, täglich 24 Stun­den lang. Arbeit­slosigkeit war auch damals ein ständi­ges The­ma und die bösen Migranten kamen nicht von anderen Kon­ti­nen­ten, son­dern ein­fach aus anderen Län­dern, wur­den aber genau­so ver­achtet wie heute.

Ter­ror­is­ten sprengten Zivilis­ten in die Luft, Agents Provo­ca­teurs macht­en beim Mor­den skru­pel­los mit und Schiessereien auf offen­er Strasse oder Auto­bomben waren in der Risikokalku­la­tion mit drin, wenn man nach Lon­don oder Spanien in die Ferien ging.

Und irre Dik­ta­toren … waren eine Real­ität, die von west­lichen Regierun­gen allzu gerne hofiert wur­den, weil lohnende Geschäfte mit ihnen gemacht wur­den, wenn sich die Gele­gen­heit bot. Auss­er sie waren von den Kom­mu­nis­ten gestützt, dann war es natür­lich etwas ganz anderes.

Und trotz­dem kon­nte einem die Welt wesentlich weniger bedrohlich erscheinen, ohne dass man sich speziell darum bemühen musste. Das lag vor allem an den Din­gen, die es noch nicht gab. Soziale Medi­en – darunter mochte man allen­falls Klatschmagazine ver­ste­hen (die es heute kurioser­weise immer noch gibt), Online­di­en­ste und Inter­net waren unbekan­nt und poli­tis­che Intri­gen wur­den nicht vor Mil­lio­nen­pub­likum aus­ge­tra­gen, son­dern in Hin­terz­im­mern. Die demüti­gende Demon­tage von Mitar­beit­ern, wie sie Don­ald Trump betreibt, war annäh­ernd ähn­lich nur aus dem Ost­block bekan­nt, wenn ein Regimewech­sel begleit­et von Schauprozessen betrieben wurde. Und selb­st das war seit den 50ern aus der Mode ger­at­en. Und Fake News glaubte man am ehesten mitzubekom­men, wenn in der Press­eschau im Deutsch­land­funk aus der DDR-Staats- und Parteizeitung «Neues Deutsch­land» der Leitar­tikel vorge­le­sen wurde.

Wenn davon gesprochen wird, dass heutzu­tage durch die ständi­ge Reizüber­flu­tung aus 100 Nachricht­enkanälen die Gesellschaft hys­ter­isiert wird, scheint das zu stim­men. Doch es kön­nte auch sein, dass ger­ade dieses Bom­barde­ment aus News-Wahnsinn uns zum ersten Mal in der Geschichte halb­wegs die Real­ität der Welt vor Augen führt, inklu­sive der Real­ität, dass Poli­tik­er lügen, dass sich die Balken biegen, in der Wirtschaft bet­ro­gen und geschum­melt wird und eigentlich alle Staat­en non­stop Pro­pa­gan­da betreiben.

Wenn wir nun in den Ferien nicht mehr abschal­ten kön­nen, weil eine ständi­ge Flut an Tweets, Sta­tus-Updates und Push-Mel­dun­gen auf unseren Devices lan­det, und wir uns von dieser über­lasteter als son­st schon fühlen, weil uns die Arbeit nicht mehr zwangs-ablenkt, dann soll­ten wir uns vor allem eines fra­gen: Ist der Men­sch an sich mit der Men­schheit über­lastet? Wur­den wir früher – gefühlt – ein­fach nur deshalb bess­er mit all dem fer­tig, weil uns nur ein winziger Teil von der Welt präsen­tiert wurde? Sind wir an sich zu blöde für diese Welt … oder zumin­d­est diejeni­gen von uns, die einst mit ein­er anderen Wahrnehmung und Präsen­ta­tion von dieser aufgewach­sen sind?

Gut möglich, dass die zunehmende Polar­isierung von Mei­n­un­gen und poli­tis­chen Stand­punk­ten darauf zurück­zuführen ist, dass der Ver­such, all die Real­ität wahrzunehmen, die uns präsen­tiert wird, zum Scheit­ern verurteilt ist und sich Leute – assistiert von Fil­ter-Bub­ble-Algo­rith­men – ihre kuratierte Real­ität zusam­men­schus­tern, die nur noch an weni­gen Punk­ten Kon­takt mit ver­i­fizier­baren Fak­ten hat.

Wer sich auf diese Teil­wahrheit­en und Gan­zlü­gen beschränkt, hat wom­öglich wesentlich weniger stres­sige Ferien als jene, die immer noch dem aus­sicht­slosen Ver­such, alles reinzuziehen, nach­hecheln. Wenn also ein Kol­lege verdächtig entspan­nt aus den Ferien zurück­kehrt, kön­nte es daran liegen, dass er in ein­er Fil­ter-Bub­ble lebt, die ihn vor keine Fra­gen stellt und die ihn in Selb­stzufrieden­heit sich zurück­lehnen lässt.

Oder es gibt natür­lich noch die andere, völ­lig irre Möglichkeit: Der Kerl war drei Wochen lang offline. Und das, das gin­ge dann ja über­haupt nicht … oder?

Artikel online veröffentlicht: 11. August 2017 – aktualisiert am 8. September 2017