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«Fred und Franz»

By Patri­cia Schmidt

“Das glaubt mir ja eh kein­er.» Schmun­zeln, diese Sit­u­a­tion genau ken­nen, irgend­wie aber doch zweifeln. “Und weil mir das kein­er glaubt, erzähl’ ich es ein­fach, wie es war.» Tat­säch­lich fällt es einem schw­er zu glauben. Der Men­sch übertreibt nun mal gerne. In der Erin­nerung war ja schon immer alles gröss­er, aufre­gen­der, bess­er. Und dann war schlussendlich alles doch nur halb so wild. “Es ist wirk­lich war. Aber ich lese bess­er wieder etwas.» Ruhe.

Fred und Franz, zwei Bünd­ner Urgesteine, sitzen im Ses­sel­lift fest. Unter ihnen nur der Nebel. Oder sie sitzen an der Bar. Hack­en Holz hin­ter dem Haus, sind auf der Jagd oder auf der Baustelle. Dazu trinken sie ständig Bier oder Schnaps und rauchen. Hemd­särm­lig, boden­ständig und etwas karikiert. Natür­lich drehen sich die Gespräche um Frauen. Fred und Maria, seine gescheit­erte grosse Liebe, Franz und Ana oder Mag­dale­na. Liebe oder Sex. “Wie die Leere aushal­ten, das ist die Kar­di­nal­frage» sagt Fred auf dem Ses­sel­lift zu Franz und meint wohl kaum den Nebel.

“Genau dieselbe Geschichte ist auch mal einem bei mir im Dorf passiert» unter­bricht sich Arno Camenisch selb­st beim Vor­lesen. Oft ist nicht klar, ob er von Fred, Franz, sich selb­st oder einem Fre­und erzählt. Oder ob er sich gegenüber dem Pub­likum in der Win­terthur­er Stadt­bib­lio­thek einen Spass erlaubt. Kaum etwas erfährt man über Umstände, Ausse­hen oder darüber, wie es mit ihnen weit­erge­ht – Fred, Franz, Arno oder dem Jun­gen aus seinem Dorf. In Camenischs Stimme schwingt stets eine Leichtigkeit und Selb­stver­ständlichkeit mit, die der Absur­dität sein­er Geschichte trotzt. Dabei sind die Sprach­bilder der All­t­agsszenen, die Arno Camenisch malt, höchst präzise. Die Mikroebene bleibt im Text ver­bor­gen und hallt mit unglaublich­er Inten­sität in den Köpfen der Zuhör­er nach.

Zürich liest

In Eck­en klein­er Buch­lä­den, in schumm­ri­gen Kneipen, zwis­chen ver­staubten Bücher­re­galen alter Bib­lio­theken und in alten Bahn­hof­shallen wird es an vier Tagen im Okto­ber ganz still. Keine Insze­nierung, kein The­ater, keine Musik und kein Film – nur leise Stim­men und Geschicht­en. Seit drei Jahren find­et an vier Tagen im Herb­st das Büch­er- und Lese­fes­ti­val “Zürich liest» statt. Mit 140 Lesun­gen und lit­er­arischen Ver­anstal­tun­gen und mit über 200 Autorin­nen und Autoren gehört “Zürich liest» zu den grössten Lit­er­atur­fes­ti­vals im deutschsprachi­gen Raum.

Arno Camenisch liest zum zweit­en Mal am Zürcher Lit­er­atur­fes­ti­val. Nach Sez Ner, Hin­ter dem Bahn­hof, aus welchen er bere­its 2011 im Rah­men von “Zürich liest» las, fol­gten Ustrinka­ta und nun Fred und Franz. Seine Büch­er wer­den in 22 Sprachen über­set­zt – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Camenisch neb­st Deutsch auch auf Rätoro­man­isch schreibt, ein­er Sprache, der selb­st in der Schweiz nur 0,5 Prozent der Bevölkerung mächtig sind. “Und wie ist das möglich, eine Geschichte, die sich in den Bünd­ner Bergen auf Rätoro­man­isch abspielt, zu über­set­zen?» Es geht um Men­schen, um innere Hal­tun­gen, um Schick­sale und Empfind­un­gen– nicht um die Sprache, beant­wortet Camenisch die Frage ein­er Leserin. “Deshalb ist es auch egal, wenn die Leute denken, wir wür­den da oben in den Bergen römisch sprechen – die Geschicht­en der Römer ver­ste­ht man ja heute auch noch. »

Schaffhausen fern

“Als ich kür­zlich Geburt­stag feierte, wollte ich in eine Stadt fahren. Es sollte aber nicht irgen­deine Stadt sein.» Das passt insofern, als dass Camenisch’s Texte immer wieder von Prag, Barcelona, Madrid, Leipzig und Vil­nius erzählen. Von ein­er Nähe und Ferne. Und von ein­er Sehn­sucht. “Ich fuhr nach Schaffhausen.» In anderen Anek­doten sitzt Camenisch im Zug, der sich ver­fährt. Bleibt mit dem Fuss in Bern in der Tram­schiene steck­en oder muss zu Fuss nach Brem­garten. Immer geht es aber um Liebe, das Find­en, Ver­lieren, Fes­thal­ten und Loslassen. Das Schöne und der Tod. Fred und Franz sitzen zum Schluss der Lesung immer noch auf dem Ses­sel­lift. Vor ihnen das Unbes­timmte. Fred, Franz, Camenisch und die Leser wis­sen eine Geschichte muss nicht immer weit­erge­spon­nen wer­den. Manch­mal har­rt das Leben aus. Und ist in dem Aushar­ren unge­mein span­nend.

: http://www.kulturkritik.ch/2013/arno-camenisch-liest-aus-fred-und-franz/

Artikel online veröffentlicht: 28. Oktober 2013 – aktualisiert am 18. März 2019