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Freie Sicht aufs Mittelmass

Von Klaus Bonano­mi und Stephan Fuchs (kb) — Die banale Bemerkung drängt sich auf: Das beste The­ater in Bern wird derzeit nicht auf der Bühne, son­dern hin­ter den Kulis­sen gespielt… im Stück «Habe­mus Inten­dan­tem?» Noch ist kein weiss­er Rauch aus dem Kon­klave aufgestiegen, noch haben Berns The­ater-Kardinäle keinen Nach­fol­ger des Anno Domi­ni 2007 zurück­tre­tenden «Pon­tif­ex Max­imus» Eike Gramss erko­ren. Bei Redak­tion­ss­chluss dieser Num­mer war jeden­falls die Aus­gangslage um das Stadtthe­ater-Direk­to­ri­um noch offen.

«Was für ein Stadtthe­ater will Bern?» Ein Podi­ums­ge­spräch mit diesem Titel brachte Mitte April im Schlachthaus eben­falls keine Klärung. Hen­ri Huber, Stadtthe­ater-Ver­wal­tungsrats-Präsi­dent, kam zehn Minuten zu spät und musste sich in einem büh­nen­reifen Ses­seltanz seinen Stuhl auf dem Podi­um von Samuel Schwarz, einem der abgelehn­ten Inten­danzKan­di­dat­en, erobern; der Bund ortete «Beamte im Agi­ta­tion­sthe­ater», die BZ titelte zu Recht: «Die Posi­tio­nen bleiben hart.»

War am Ende die Frage falsch gestellt? Müsste Bern sich nicht fra­gen, was für ein Stadtthe­ater, son­dern: ob es über­haupt noch eines will? Warum soll sich eine mit­tel­grosse Prov­inzs­tadt wie Bern ein Stadtthe­ater leis­ten, das mit rund 24 Mil­lio­nen jährlich sub­ven­tion­iert wird, was zuviel zum Ster­ben und zuwenig zum Leben ist? Zwar unter­stützen Stadt, Kan­ton, Burg­erge­meinde und die Agglom­er­a­tions­ge­mein­den jeden The­aterbe­such mit 200 Franken (das Stadtthe­ater rühmt auf sein­er Home­page den «beachtlichen Eigen­fi­nanzierungs­grad von 27 Prozent» ) doch sel­ten bringt das Stadtthe­ater damit etwas zus­tande, das über Bern hin­aus zur Ken­nt­nis genom­men wird. Ob Sprechthe­ater, Tanz oder Oper: andere sind bess­er, haben mehr Geld oder mehr Pfiff als der bernische «The­ater­schlaf­saal», der «sein Pub­likum nur sel­ten aus den süssen Operetten-Träu­men geris­sen» hat, wie die NZZ am Son­ntag erfrischend respek­t­los schrieb. Freie Sicht aufs Mit­tel­mass.

Natür­lich gibt’s nicht nur das «Wiener Blut» von Johannes Strauss (let­zt­mals am 1. Mai): Derzeit wird auch «Der Mit­mach­er» gegeben, das ist immer laut Stadtthe­ater-Eigen­wer­bung «Dür­ren­matts wohl erfol­glos­es­te Komödie»; oder die ital­ienis­che Burleske «Das Vergnü­gen, ver­rückt zu sein», die sog­ar dem Blick eine wohlwol­lende Besprechung unter dem Titel «Ver­rück­tes Vergnü­gen» wert war. Leute wie Lukas Bär­fuss oder Grazia Per­go­let­ti, die in der freien Szene gross gewor­den sind, ste­hen dieser Tage im Korn­haus auf der Bühne oder führen Regie; und man kooperiert auch beim «Auawirleben»-Festival mit der freien Szene.

Doch was die Ausstrahlung auf der nationalen oder gar inter­na­tionalen Ebene bet­rifft, kann Bern nicht mithal­ten. Zürich hat auch in der Ära nach Marthaler die Nase vorn, schon nur was die Spiel­stät­ten bet­rifft mit dem Schiff­bau fürs aktuelle und dem Pfauen fürs tra­di­tionelle The­ater und erst recht, wenn’s ums Geld geht: Man kann sich an der Lim­mat für das aktuelle Stück «Oblo­mow» ohne weit­eres den Star-Architek­ten Peter Zumthor als Büh­nen­bild­ner leis­ten, auch um den Preis, dass wegen dessen grossan­gelegtem Dekor vier­mal weniger Zuschauer als üblich Platz find­en. Und ihren Operndi­rek­tor Alexan­der Pereira hal­ten die Zürcher so in Ehren, dass ihn auch die Mailän­der Scala nicht wegzu­lock­en ver­mag.

Zur Tanzhaupt­stadt taugt Bern eben­falls nicht, zu klein ist das Bern­er Bal­lett und seit Mar­tin Schläpfers Abgang vor Jahren zu unbe­deu­tend; eine Stunde Fahrzeit ent­fer­nt gibt’s bei Béjart in Lau­sanne mehr zu sehen. Und während Bern immer noch ver­sucht, allen ein biss­chen etwas von allem zu bieten, kul­tivieren andere Städte ihre jew­eili­gen Spezial­itäten: Für klas­sis­che Musik ist Luzern mit seinem weltweit erstk­las­si­gen Konz­ert­saal im KKL die erste Adresse, Solothurn hat die Fil­mund die Lit­er­aturtage, Neuen­burg sein Cen­tre Dür­ren­matt, und der beste Fuss­ball nation­wide wird immer noch in Basel zele­bri­ert…

Das Stadtthe­ater Bern «hat es bish­er nicht in eine Liga mit über­re­gionaler Ausstrahlung geschafft», wie die BZ richtig bemerkt. Und daran wird sich unter den gegebe­nen Bedin­gun­gen auch nichts ändern. Deshalb der radikale Vorschlag: Schliessen wir das altehrwürdi­ge Haus im 102. Jahr seines Beste­hens und ver­wen­den wir das frei­w­er­dende Geld ander­swo, wo es mehr nützt. Nutzen wir die Chance, um mit dem neuen Paul-Klee-Zen­trum zu ein­er erstk­las­si­gen Ausstel­lungs-Adresse für mod­erne und zeit­genös­sis­che Kun­st zu wer­den. Oder gön­nen wir es unseren Wap­pen­tieren, befreien sie aus dem engen Bären­graben und bauen wir trotz Mehrkosten jet­zt erst recht das neue Gehege an der Aare…

 

Wo schlafen wir?

(sf) - Spricht seit dem Artikel in der NZZ am Son­ntag jemand über den The­ater­schlaf­saal und das Schnar­chthe­ater, so weiss jed­er, um was es geht: um das Bern­er Stadtthe­ater. So gese­hen hat Bern eine Superla­tive: das teuer­ste, sub­ven­tion­ierte Stun­den­ho­tel der Schweiz, das den Steuerzahler ins­ge­samt 23 Mil­lio­nen pro Jahr kostet.

Ob die Dar­bi­etun­gen als Schnar­chthe­ater gel­ten, sei dahingestellt. Die kün­st­lerische Leis­tung wird, beson­ders die des unter­dotierten Bal­letts, gelobt. Dem Schaus­piel wird keine grosse Chance eingeräumt und die Oper düm­pelt nicht weit über die Aare, obwohl Eike Gramss jährlich ca. 4 Insze­nierun­gen sel­ber macht.

Die Ver­ant­wortlichen haben geschlafen und das seit 1991. Eike Gramss, Inten­dant des 300 Per­so­n­en Betriebes hat es in sein­er Ära nicht geschafft sein Dreis­parten­haus in ein inno­v­a­tives, pop­uläres Haus umzubauen und eine neue Gen­er­a­tion für das Haus der Göt­ter zu begeis­tern. Kurz bevor der Vorhang fällt kommt die Frage auf: «Was für ein Stadtthe­ater will Bern?» Zeit genug hätte er gehabt, aber qua­si in let­zter Minute verteilt er Schuldzus­prüche an die Wirtschaft und schimpft über die zu kurz gehal­te­nen Sub­ven­tio­nen. Klingt nach Hem­den waschen. Der Unmut und die unter­schwellige Kri­tik gärte allerd­ings schon lange, von den finanziellen Sor­gen wusste man. War da nicht let­ztes Jahr noch eine Not­spritze von 500‘000 Franken zu bewil­li­gen? Spätestens seit der Freis­tel­lung des ehe­ma­li­gen Bal­lettdi­rek­tors Duméril, unter dem Vor­wand, der Fortbe­stand des Ensem­bles könne aus ökonomis­chen grün­den nicht garantiert wer­den, hät­ten Sig­nale geset­zt wer­den kön­nen.

Aber nicht nur Gramss, son­dern auch die The­atergenossen­schaft unter dem alten Regime und Hen­ri Huber, der neue The­atergenossen­schaft­spräsi­dent haben ver­schlafen. Sie hät­ten erken­nen müssen, wo die Welt «änet» der Aare ste­ht und was früher oder später in Bern erwartet wer­den musste. Selb­stver­ständlich haben auch wir, die Medi­en gut geschnar­cht. Es wäre an uns gele­gen zu recher­chieren anstatt Hof­berichter­stat­tung zu schreiben. Und nicht nur wir, die Medi­en, son­dern auch die BesitzerIn­nen des The­aters, die Steuerzahler, hät­ten Forderun­gen und Fra­gen stellen sollen anstatt nach Basel, Zürich und Luzern zu reisen — oder eben zu schlafen.

Bern ist wirk­lich vere­int und stark. Wir wer­den unserem Namen gerecht und nicht umson­st nen­nt und ken­nt man Bern vom Appen­zell bis nach La Chaux-de-Fonds als die Schlaf­s­tadt par excel­lence.

Bild: Pierre Mar­ti
ensuite, Mai 2005

 

Artikel online veröffentlicht: 19. Juli 2017