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Geschichten vor dem Volk

Von Patrik Etschmay­er - Wahlson­ntage in der Schweiz haben es mitunter in sich. Vor allem, wenn das Volk diame­tral am Par­la­ment und dem Bun­desrat vor­bei entschei­det. In den let­zten Jahren war das meist rechts vor­bei, doch bei der USR-III-Vor­lage nahm der Zug das linke Geleise und liess die bürg­er­lichen Parteien in der tief bürg­er­lichen Schweiz bös im Regen ste­hen. Was sagt uns das?

Die Unternehmenss­teuer­reform war vor allem ein Ver­sprechen: das Ver­sprechen, dass alles gle­ich bleiben würde, ein­fach bess­er. Sozusagen: Das Schweiz­er Steuere­in­horn wird weit­er­hin Regen­bo­gen furzen, aber jet­zt auch noch mit Glit­ter drin und mit dem Segen von der EU und OECD. Aber sobald gefragt wurde, wie das genau funk­tion­iere, wurde geant­wortet, das gehe eben ein­fach, weil … naja, es geht! Glaubt uns ein­fach!

Solange der Chor noch einzig aus den Sil­ber­stim­men der bürg­er­lichen Bun­desparteien und Wirtschaftsver­bände bestanden hat­te, lagen die Umfragew­erte auf dur­chaus hoff­nungs­fro­hem Niveau. Doch dann kamen die Finanzdi­rek­toren von Kan­to­nen und vor allem Gemein­den daher und ver­saut­en das himm­lis­che Lobpreisen mit fürchter­lichen Dis­so­nanzen. Dabei war weniger wichtig, was gesagt wurde, als von wem es gesagt wurde. Es waren zwar auch Poli­tik­er, aber solche, die unmit­tel­bar nahe wirken, Staat­sangestellte, die im jen­em Rathaus sitzen, das man von seinen Behör­dengän­gen her ken­nt, und deren gelun­gene oder ver­murk­ste Poli­tik den All­t­ag der Stimm­bürg­er unmit­tel­bar berührt. Das sind die, denen man glaubt, wenn sie sagen: ‘Jungs und Mädels, wenn ihr das annehmt, muss ich von jedem min­destens einen 1000er mehr haben, da wir son­st so viel Geld ver­lieren, dass unsere Gemeinde ein­pack­en und das neue Schul­haus nicht finanzieren kann’ — dann kann eine solche Vor­lage eigentlich ein­pack­en.

Schein­bar ahn­ten Economie-Suisse-Bigler, Bun­desrat Mau­r­er und deren Kol­le­gen bere­its im Vor­feld, dass die Abstim­mung schiefge­hen kön­nte. Dabei wird vor allem der Ex-Bun­desrätin Eve­line Wid­mer-Schlumpf der Vor­wurf gemacht, mit ihrer fach­lichen Mei­n­ungsäusserung die Vor­lage zum Stolpern gebracht zu haben. Dabei verkün­dete sie ja nur, was offen­sichtlich passiert war: Aus­gle­ichende Mass­nah­men seien aus der Vor­lage ent­fer­nt wor­den, die Belas­tung der Gemein­den werde erhe­blich ansteigen.

Der Rest ist bekan­nt. Und Ihnen sowieso. Denn die Chance, dass Sie Nein ges­timmt haben, obwohl Sie sich als solid­er bürg­er­lich­er Wäh­ler verorten (Sozis muss man hier ja nicht erst ansprechen), ist erhe­blich. Eben­so, dass Sie sich in ein­er unbe­que­men Sit­u­a­tion wieder­fan­den. Ein­er­seits ver­sprachen jene Parteien, die Ihnen son­st aus dem Herzen (oder min­destens dem Ver­stand) sprechen, dass alles nicht nur gut, son­dern bess­er werde, und ander­er­seits sagten Vertreter der­sel­ben Parteien, die räum­lich wesentlich näher bei Ihnen poli­tisieren, dass hier ein Desaster in der Mache sei. Sie tat­en das, was nor­male Men­schen machen: Sie ver­traut­en in ein­er ambiva­len­ten Sit­u­a­tion jen­er Per­son, die Ihnen näher­ste­ht, jen­er Per­son, die eher das Schick­sal mit Ihnen teilt.

Dieser Son­ntagss­chock war so — ganz logisch — ähn­lichen Fak­toren geschuldet, von denen anson­sten  pop­ulis­tis­che Strö­mungen prof­i­tieren, was eine tiefer gehende Frage aufwirft: Ist Pop­ulis­mus wirk­lich ein Radikalisierungs- oder eher ein Schich­tung­sprob­lem? Ein Prob­lem der Dis­tanzen zwis­chen Entschei­dung und Effekt in der Poli­tik und Gesellschaft von heute? Kön­nte es sein, dass die ganze ras­sis­tisch-faschis­toide Pest, die momen­tan den poli­tis­chen Diskurs unter­gräbt einen Ursprung in der ger­adezu unglaublichen Ent­frem­dung zwis­chen ‘gross­er’ Poli­tik und ‘kleinem’ Leben hat?

Men­schen sehnen sich nach Klarheit und ver­ab­scheuen in der Regel offen­sichtliche Ambivalenz. Man schaue sich nur mal einen durch­schnit­tlichen Spielfilm an, oder ein Best­seller­buch. Während Autoren­filme und ern­sthafte Lit­er­atur Pro­tag­o­nis­ten, die zwis­chen gut und übel, edel und niederträchtig chang­ieren, lieben, ja, etwas anderes gar nicht akzept­abel scheint, ist der Kampf gut gegen böse dort, wo möglichst viele Men­schen ange­sprochen wer­den sollen, klar geze­ich­net. Zumin­d­est am Ende weiss jede und jed­er, woran man mit wem war: Die Geschichte kommt zu einem ein­deuti­gen Abschluss.

In der wirk­lichen Welt hinge­gen gibt es 1000 Grautöne, die je nach Stand­punkt völ­lig unter­schiedlich ausse­hen. Die elende Kom­plex­ität der glob­alen Wirtschaft, Poli­tik und Gesellschaft über­fordert ja sog­ar Spezial­is­ten. Was Wun­der, wenn Nor­mal­sterbliche damit nicht zurechtkom­men. Gut und Böse zu verorten ist daher vie­len wichtig. Wenn rein äusser­liche Merk­male dazu hergenom­men wer­den kön­nen, umso prak­tis­ch­er: In der Flüchtlings­de­bat­te beset­zen denn auch die Ideen über Men­schen deren Wahrnehmung und die Fron­ten sind eben­so klar wie behäm­mert. Während die einen nur das Gute und die Not sehen wollen, nehmen die anderen nur die Bedro­hung und das Schlechte wahr. Bei noch kom­plex­eren Din­gen — wie eben zum Beispiel der USR III kom­men die gle­ichen Regeln zur Anwen­dung. Die Wirk­lichkeit inter­essiert nicht — aber deren möglichst grif­fige Inter­pre­ta­tion in ein­er Geschichte, in welch­er der Stimm­bürg­er sich selb­st auf der Seite der Guten find­et. Mithin auf einem emo­tionalen Niveau, wie man es bei einem Sech­sjähri­gen erwartet. Dies sagt weniger über unsere aller Erwach­sen­heit aus, aber umso mehr darüber, wie wir uns im Angesicht der Kom­p­lika­tio­nen in der Welt fühlen: ziem­lich hil­f­los und über­fordert.

Nun mag manch­er denken, dass der Autor damit sagen will, dass es kindisch war, USR III abzulehnen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass die bessere, überzeu­gen­der erzählte Geschichte gewon­nen hat — unab­hängig von deren Wahrhaftigkeit oder vom effek­tiv­en Inhalt der Geset­zesvor­lage, und hof­fentlich hat­te das Volk recht.

Die Frage ist nun die: Wer­den wir es je schaf­fen, vom Gschichtli-Niveau wegzukom­men, oder sind wir in dieser immer kom­plex­eren Welt ver­dammt, uns darauf zu beschränken, die glaub­würdig­sten Geschicht­en in der Poli­tik zu find­en und deren Erzäh­lern zu fol­gen? Wenn das Let­ztere der Fall ist, ergibt sich daraus die drin­gende Notwendigkeit, dass Men­schen auch fik­tive Geschicht­en bess­er ver­ste­hen, sprich, die kul­turelle Bil­dung in Schulen in Zukun­ft min­destens so hoch wie die natur­wis­senschaftliche zu gewicht­en — denn nur wer kom­plexe, ambiva­lente Geschicht­en zu ver­ste­hen lernt, hat eine Chance, die Real­ität der immer vielgestaltigeren Welt halb­wegs zu erfassen … sei es nun am Wahlson­ntag oder am Tag danach.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Artikel online veröffentlicht: 15. Februar 2017 – aktualisiert am 27. Februar 2017