Von Lukas Vogelsang — Europa, oder wahrscheinlich die ganze Welt, steckt in einer Sinnkrise, und wir wissen nicht mehr so recht wohin mit uns. Die gesellschaftliche Mechanik hat Rost angesetzt und ist brüchig geworden, Teile müssen ersetzt werden, mit Öl können wir nicht mehr so einfach das Getriebe reparieren. Doch wo sollen wir ansetzen? Was macht Sinn? Und vor allem: Was haben wir für die Zukunft?
Immerhin können wir auf eine erfolgreiche Zeit zurückblicken: Wir haben es hingekriegt, dass die lauten VordenkerInnen leise geworden sind. Und jene, die noch was zu sagen haben, stehen vor einer Masse Menschen, welche nur noch verdutzt auf diese Worte starren und damit nichts mehr anfangen können. Schuld daran sind viele Faktoren – einer der Wesentlichsten ist sicher, dass wir faul geworden sind und Maschinen für uns arbeiten lassen. Damit haben wir den Bezug zu den einzelnen Arbeitsschritten und Denkprozessen und damit die Erinnerung an deren emotionale und sinnliche Effekte verloren. Unser Denken reduziert sich mehr und mehr auf die «Ich-Erfahrung» und auf die «Ich-Theorie». Wer denkt bei seinen Handlungen noch an Staaten? Wer an gesellschaftliche Auswirkungen? Zwar bemühen sich einige Gruppen noch um «Nachhaltigkeit», und damit eine allgemein erträgliche Zukunft. Doch was erwarten wir? Wir haben unser «Paradies» selber erschaffen.
Hat der Mensch das Denken verlernt? Das frage ich mich oft, wenn ich in der Nacht bei Nebel oder starkem Schneefall auf der Autobahn den Rücklichtern von Rasern nachblicke. Nun, ich hüte mich, diese Frage zu beantworten. Aber was meinen Sie, liebe LeserInnen? Haben Sie von sich selber das Gefühl, in den letzten 10 Jahren evolutionstechnische Denkfortschritte gemacht zu haben? Und ich meine das ganz unpolemisch. Haben Sie an sich selber eine Entwicklung feststellen können, hat sich was verändert, und wenn ja, was? Ist Ihr Wissen breiter und tiefer geworden? Ist ihre Entscheidungsfähigkeit gewachsen? Sind wir «bessere Menschen» geworden in dieser Zeit?
Peter Tauber, CDU Generalsekretär und Mitglied des Deutschen Bundestages, bringt meiner Meinung nach die Denkkrise und unseren Zustand in seinen Podcasts auf den Punkt: «Hallo und Hurra!» – Mit diesen Worten versucht er, seine Politik und die Wähler zu bewegen. Das «Hallo» interpretiere ich als den Versuch, auf Menschen zuzugehen, fragend und suchend. Das «Hurra!» hat er sinngemäss von Constantin von Brandenstein-Zeppelin, «Burgherr» von Burg Brandenstein im Bergwinkel, übernommen und der erklärt es so: «Oft ist nicht viel Zeit, wenn Menschen auseinandergehen, aber man möchte doch die besten Wünsche mit auf den Weg geben, Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass sich die Dinge zum Guten wenden, und die Freude teilen, dass man sich begegnet ist. Das alles steckt in dem schönen Wort Hurra. Darum sage ich das zu Ihnen, wenn wir uns verabschieden.» Mit anderen Worten: Das «Hurra!» ist Ausdruck einer Überforderung. Wir gehen aufeinander zu und trennen uns überfordert. Mich erstaunt dies bei unserer freundlos‑übersozialisierten Gesellschaft gar nicht. Überforderungen, Reizüberflutungen sind ein mehr als ernstzunehmendes Problem. Wir, die darin gross geworden sind, haben noch eine Begrifflichkeit dafür. Aber was ist mit jenen Menschen, welche in unsere Regionen flüchten, aus Ländern, deren Reizüberflutung und Überforderung durch Bomben und rückständige Patriarchate beherrscht werden? Es muss die Hölle sein.
Und die Kultur und die Kunst? Was bieten diese ausser «zentrifugal dynamische» Erklärungen, die einen so verschwubbelten Unsinn von sich geben und keinen Realitätsbezug mehr herzustellen vermögen? Seit Monaten ist es um die kulturpolitischen Dialoge still geworden. Und die Inspiration scheint sich bei den mickrigen Besucheraufkommen in Grenzen zu halten. Kultur bietet mehrheitlich Unterhaltungsprogramme an – für Massen
gedacht. Die Politik hat, statt sich den Philosophien der Gesellschaft zu stellen und öffentlich zu diskutieren, die Kulturbudgets für die nächsten Jahre bewilligt – und sogar noch ein paar Fränkli mehr dazu gelegt. Nur ja nicht darüber debattieren. Nur ja nicht die noch schlafenden Hunde wecken. Ich glaube, jede und jeder PolitikerIn hofft insgeheim, dass die wesentlichen gesellschaftlichen Fragen nach ihrer Amtsperiode explodieren – nur nicht jetzt. Jetzt müssen wir still sein. Hurra!
Titelbild: Exklusiv für ensuite geschaffenes Titelbild vom Pop-Art Künstler James Francis Gill, auf dem Porträt, fotografiert vom Berner Fotografen Remo Neuhaus. Die letzte Magazintitelseite machte Gill für das «Time Magazin» im Jahr 1968. Die Ausstellung ist in Bern in der Galerie Rigassi noch bis zum 25. April 2015 zu sehen.
www.galerierigassi.ch
www.premium-modern-art.com
www.remoneuhaus.com