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«Heute» ist von gestern — und morgen?

Von Lukas Vogel­sang - Welch fataler Irrtum. Peter Rothen­büh­ler, Chefredak­tor von «Le Matin», macht im Moment grosse Worte in der Medi­en­land­schaft mit der These: «Junge Leser sind glück­lich, wenn sie mit ihrer Zeitung schnell fer­tig sind. Dazu braucht es kurze, neu­trale Texte, die ein­fach gegliedert sind und schnell zur Sache kom­men. Das machen derzeit die Gratiszeitun­gen am besten und daher sind sie auch so erfol­gre­ich bei den jun­gen Lesern». Nun gut. Früher wur­den Zeitun­gen als Infor­ma­tion­s­me­di­en gebaut, heute dreht sich alles um Leser­sta­tis­tiken, um die Wer­bung zu gewin­nen. Früher ver­sucht­en Jour­nal­is­ten mit ihrer Erfahrung, Nachricht­en so umzugestal­ten, dass sich die Leser­schaft eine Mei­n­ung und ein Bild eines Sachver­haltes erdenken kon­nte. Das hat­te eine gewisse Bil­dung der Bevölkerung zur Folge. Man wusste fundiert­er über die Welt Bescheid. Früher waren die Erwach­se­nen Vor­bilder, jet­zt ler­nen die «Jun­gen» den «Alten» das Alpha­bet — oder anders gesagt: Die «Alten» ver­trauen nicht mehr ihrem Wis­sen.

Im Rausch der Unwis­senheit und Vision­slosigkeit, in ein­er Welt der Über­in­for­ma­tion und Habgi­er, richtet sich alles nach den Jun­gen und ein­er Klien­tel, welch­es sich eher apoli­tisch und desin­ter­essiert gibt. Alles wird auf diese «Jun­gen» fokussiert, die Sprache, die Konzepte, die Zeit. Die Tagesme­di­en spüren Nach­holbe­darf und ver­suchen, im Sparfieber den ver­lore­nen Markt zurück­zugewin­nen. Notabene wer­den Junge Leute eingestellt, alte Hasen aus­rang­iert — dies vor allem, weil die Jun­gen weniger kosten. Man pro­mot­ed diese Strate­gie und ver­liert dabei den Blick für die Nachricht, den Sinn und Zweck und vor allem den Inhalt. Boule­vard-News erhal­ten wir an jed­er Ecke und auf jed­er Inter­net­seite. Häp­pchen-Texte verder­ben den Magen, motivieren, weniger zu lesen und The­men schneller zu vergessen. Dass diese Jun­gen vielle­icht nicht ihre eigene Strate­gie und Mech­a­nis­men vorge­set­zt haben möcht­en, son­dern vom Know-how und von den Erfahrun­gen der «Alten» etwas ler­nen möcht­en, um dieses Wis­sen weit­erzuen­twick­eln, ste­ht gar nicht zur Debat­te. Statt Weisheit von ein­er Gen­er­a­tion zur näch­sten zu ver­mit­teln, kopieren wir die Nichtwissenden und haben das Gefühl, gescheit­er zu wer­den. Wie das? Es ist, als würde der Schrein­er­meis­ter den Lehrling fra­gen, wie man einen Tisch baut. Damit geht die Erfahrung, welche wir uns über Gen­er­a­tio­nen erar­beit­et haben, ver­loren. Und weil die Medi­en den Ton angeben, Mei­n­un­gen bilden und den Markt ori­en­tieren, glauben wir ihnen, wenn sie sagen, was jet­zt Trend ist. Sie sagen, wo’s langge­ht.

Die «Alten» ler­nen also von den «Jun­gen», wie die Welt funk­tion­iert. Was sie aber vergessen dabei, ist, dass die Jun­gen wach­sen. Ein Konzept, welch­es heute funk­tion­iert, ist mor­gen ver­al­tet und die Gen­er­a­tion hat gewech­selt. Wenn man bedenkt, dass ein Medi­en­ti­tel unge­fähr 3 bis 4 Jahre braucht, um sich im Markt zu etablieren, so müssten die Medi­en für ihre «Fast-Food-Zeitun­gen» jet­zt ein neues Konzept schreiben für die näch­ste Gen­er­a­tion. «20Minuten» und «heute» sind bere­its von gestern — denn wir ver­suchen, die «Jun­gen» heute zu ver­ste­hen. Doch mor­gen sieht deren Welt ganz anders aus und wir alle wer­den auf diesem Weg leer aus­ge­hen. Mit ein­er solchen Grund­hal­tung ren­nen wir Schild­kröten dem Hasen hin­ter­her.

Ein weit­eres Denkmal: Wir leben in ein­er über­al­terten Schweiz. Über 70% des Schweiz­er Völk­leins ist über 25 Jahre alt… Was lesen die eigentlich? Auch die Zeitun­gen für die Jun­gen? Hören die alle die Trend-Radio­sta­tio­nen? Hip­pen und rap­pen unsere Gro­sis im Alter­sheim zu Eminem und kleben Pani­ni-Sam­mel­bildli? Mir graut. Wenn ich von der Titel­seite ein­er «heute» Nicole Kid­mans Bild sehe, frage ich mich, wer die denn noch ken­nt. Und es erin­nert mich, dass vieles in der Welt wichtiger wäre. Noch schlim­mer ist aber, dass News keine mehr sind, denn die News-Tick­er auf den Medi­en­seit­en brin­gen die SDA-Mel­dun­gen (Schweiz­erische Depeschenagen­tur) rund um die Uhr. Wer also wis­sen will, was wirk­lich läuft, ist schneller mit dem alten Radio oder mit der neusten Web­seite. Was will ich also mit dem vergam­melten «20Minuten»-Gipfeli oder «heute»-Zvieri?

Und was alle vergessen haben: Wir leben im Zeital­ter der Infor­ma­tionsver­ar­beitung, nicht deren Beschaf­fung. Aber keine Zeitung löst dieses Prob­lem — die alt­ge­back­e­nen Tageszeitun­gen (NZZ zum Beispiel) noch am ehesten. Alles wis­sen zu wollen, heisst auch, alles ver­ar­beit­en und verkraften zu müssen. Bis zur Bewusst­losigkeit füt­tern wir uns mit Nachricht­en­häp­pchen. Doch deswe­gen ist die Welt nicht fein­füh­liger gewor­den. Die Horn­haut auf unsern Hirnzellen nimmt mit dem Über­fluss zu, nicht ab. Und zurück bleiben pro Tag ein paar Mil­lio­nen «Fast-Food-Papierchen» in den Strassen liegen.

Aus der Serie Von Men­schen und Medi­en
Car­toon: www.fauser.ch
ensuite, Juni 2006

 

Artikel online veröffentlicht: 10. August 2017