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Intelligenz: sehr gut. Persönlichkeit: sehr stur.

By Esther Beck­er

Er sei konzen­tri­ert und diszi­plin­iert, wurde dem Pro­tag­o­nis­ten Yass­er Mroué auf dem Kinder­garten­zeug­nis bescheinigt, welch­es wir per Video zu sehen bekom­men. Weit­er heisst es da “Intel­li­genz: sehr gut. Per­sön­lichkeit: sehr stur.» Das­selbe gilt für die Video-Lec­ture Per­for­mance “Rid­ing on a cloud». Mit stois­ch­er Ruhe wird in kapite­lar­tiger Struk­tur Yassers Geschichte erzählt, der nicht zufäl­lig densel­ben Nach­na­men wie der Regis­seur des Stücks trägt. Yass­er ist der jün­gere Brud­er des libane­sis­chen Regis­seurs Rabih Mroué.

Davor und danach

Der Abend offen­bart seine Mit­tel, sie liegen sicht­bar auf dem Tisch neben der Lein­wand, an dem Yass­er sitzt: Tongerät, DVD-Spiel­er, ein Stapel DVDs. Sie bein­hal­ten eine Auss­wahl der Fil­mauf­nah­men, die Yass­er gemacht hat, auf Anrat­en der Ärzte. Nicht aus kün­st­lerischen Grün­den. Yass­er wäre gern Musik­er gewor­den. Im Ver­lauf des Abends legt Yass­er eine nach der anderen DVD ein, bis der Stapel sich am Schluss in umgekehrter Rei­hen­folge in der anderen Ecke des Tis­ches wiederfind­et. Das alles macht er nur mit der linken Hand, die rechte ist gelähmt seit “der Ver­let­zung». Als 17-Jähriger wurde durch einen Kopf­schuss seine linke Hirn­hälfte geschädigt.

Vor und nach der Ver­let­zung, das ist sei­ther Yassers Zeitrech­nung. Nach der Ver­let­zung muss Yass­er wieder ler­nen zu ver­ste­hen und zu sprechen. “Als ich mit dem Studi­um anfan­gen wollte, musste ich den Kinder­garten wieder­holen.» Auf der Lein­wand ein Lern-Spiel: Was ist das? Zu der Abbil­dung eines Stifts, eines Messers, ein­er Kas­sette etc. wer­den die unter­schiedlich­sten Begriffe einge­blendet, als let­zter “What­ev­er».

Was ist das?

Was ist das?, mag man sich auch als Zuschauer fra­gen, angesichts der Fülle von Mate­r­i­al, dem zu fol­gen man sehr wach sein muss. Ver­schiedene Textsorten (Gedichte, Lied­texte, Dialoge) live gesprochen, ab Band und als Schrift einge­blendet; Musik, Geräuschein­spielun­gen. All das par­al­lel zum Video­ma­te­r­i­al, das Yass­er zeigt, wie er im Bett liegt, wie er mit fünf Fin­gern Klavier spielt, wie seine gelähmte Hand unter Schmerzen in eine hölz­erne Form in Nor­mal­stel­lung auseinan­derge­spreizt wird. Fam­i­lien­fo­tos –eine grosse Fam­i­lie, alle Kom­mu­nis­ten, “das liegt bei uns im Blut, nicht im Kopf»– Fernsehrauschen, Schädelscans und Auf­nah­men des Haus­dachs, von dem aus der Scharf­schütze auf Yass­er geschossen hat.

Man wird erin­nert, was das ist, die Per­for­mance ver­weist immer wieder auf ihre eigene Entste­hung. Etwa, wenn Yass­er erzählt, dass Rabih, der ja als Regis­seur ja das Sagen habe, von den 100 Fil­men nur 20 aus­gewählt habe, Yass­er hinge­gen hätte gern alle gezeigt.Auch ver­weist sie auf das The­ater­ma­chen an sich, beispiel­sweise das The­ma der Repräsen­ta­tion. Yass­er hat Mühe damit, in Fotos erken­nt er nur bemaltes Papi­er, nicht aber den abge­bilde­ten Gegen­stand. Ins The­ater geht er kaum, da er nicht ver­ste­hen kon­nte, dass das Büh­nengeschehen nur gespielt ist. Es war für ihn ein Schock, wenn sich die Leiche beim Applaus ver­beugte. Und jet­zt ste­ht Yass­er da vor uns und repräsen­tiert sich selb­st. “Meine Gedanken, aber nicht meine Worte. Meine Worte, aber nicht meine Gedanken». Die Zuschrei­bung fällt im Ver­lauf des Stücks immer schw­er­er. Wessen Per­spek­tive ist das jet­zt? Ist das Fakt oder Fik­tion? Eine Über­forderung, vielle­icht ähn­lich wie Yass­er sie erlebt hat, als der nach der Ver­let­zung als Erstes nur die Augen bewe­gen kon­nte. Er wusste, dass er noch existiert, da er sah, wie andere Men­schen vor­beige­hen.

Soli­tude

Der Gefahr kitschig, oder rührselig zu wer­den, ent­ge­ht der Abend immer wieder, ein­er­seits mit warmem Humor, ander­er­seits mit den steti­gen Meta-Ver­weisen. Bil­lie Hol­i­days “Soli­tude», unter­malt die Ein­samkeit und Hil­flosigkeit, die einen gen Ende als Zuschauer beschle­icht, allein gelassen mit diesem ambiva­len­ten Ein­blick in ein Leben, allein gelassen mit der bek­lem­menden Erken­nt­nis, wie kon­stru­iert und frag­il unsere Rezep­tion ist. Erlösend dann der einge­blendete Dia­log, in dem die Brüder ihre Zusam­me­nar­beit ver­han­deln. Einen Ton­tech­niker, als der sich Yass­er anbi­etet, brauche Rabih nicht. Aber ob er sich vorstellen könne, in einem Stück über seine Geschichte sich selb­st zu spie­len? “Wir erfind­en deine Geschichte». Er selb­st habe das ja schon für zahlre­iche sein­er Per­for­mances so gemacht.

Der Schluss ist so sim­pel, wie berührend: Die Brüder spie­len zusam­men Gitarre; d.h., Yass­er greift die Akko­rde und Rabih schlägt die Seit­en.

: http://www.kulturkritik.ch/2014/riding-on-a-cloud/