Von Sonja Wenger - Weshalb begreift der Mensch das, was wichtig ist, meist erst, wenn es zu spät ist? Diese Frage stellt man sich fast zwangsläufig, wenn man «Kirschblüten Hanami», den neuen Film von Doris Dörrie sieht. Der deutschen Regisseurin und Autorin ist ein aussergewöhnlicher und feinfühliger Film gelungen, der sich ohne Pathos, dafür mit umso mehr Herz und Verstand mit den grossen Themen Liebe und Familie, Leben und Tod auseinandersetzt, und dabei nie die Bodenhaftung verliert. Dörries Geschichte handelt von gesellschaftlichen Konventionen, von der gestörten Kommunikation innerhalb einer Familie und dem, was es braucht, um Verlust und Trauer zu überwinden. Die Regisseurin führt das Publikum dabei von den Allgäuer Bergen erst nach Berlin, dann an die Nordsee — und beendet den Film in Japan am Fusse des Berges Fuji.
Doch eigentlich beginnt alles mit einem Röntgenbild. Die Ärzte informieren Trudi (Hannelore Elsner), dass ihr Mann Rudi (Elmar Wepper) nur noch kurz zu leben habe, raten ihr aber ab, es ihm zu sagen. Stattdessen solle sie doch etwas mit ihm unternehmen. Aber mit Rudi ist das gar nicht so einfach. Er mag keine Veränderungen, die Unbeweglichkeit und Routine seines Alltags als Buchhalter haben sich in jeden Aspekt ihres gemeinsamen Lebens eingeschlichen.
Trotzdem willigt er ein, die Kinder und Enkel im fernen Berlin zu besuchen — nur um feststellen zu müssen, dass sie dort mehr geduldet denn erwünscht sind. Enttäuscht und desillusioniert reisen beide weiter an die Nordsee, um noch einmal das Meer zu sehen. Bald schon packt ihn das Heimweh, doch dann ändert sich plötzlich alles. Trudi stirbt überraschend im Schlaf. Plötzlich ist Rudi mit all den unvollendeten Dingen konfrontiert, die beide immer «auf später» verschoben haben. Als ihr Sohn Karl, der vor Jahren nach Japan ausgewandert ist, ihn bei der Beerdigung zu sich einlädt, ergibt sich für Rudi die Gelegenheit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Denn Trudis grösster Wunsch war es gewesen, mit ihm einmal nach Japan zu reisen, die Blüte der Kirschbäume zu sehen und vor der Kulisse des Bergs Fuji zu tanzen.
«Kirschblüten Hanami» ist Dörries dritter Film, der in Japan handelt und eine innige Liebeserklärung an die Lebensphilosophie des Landes. Sie habe sich dabei die bekanntesten japanischen Klischees «vorgeknöpft», sagte sie an der Berlinale, wo «Kirschblüten Hanami» als deutscher Beitrag im Wettbewerb lief. Die nur kurze Zeit dauernde Kirschblüte gilt in Japan als ein Symbol der Vergänglichkeit und der Berg Fuji steht insofern für die Unberechenbarkeit des Lebens, da er wie ein launischer Charakter sich häufig hinter Wolken zu verstecken scheint. Eine durchaus passende Metapher für die widersprüchlichen Gefühle, die Rudi nach dem Tod seiner Frau erleidet.
Doch nicht nur die eindringlich erzählte Geschichte und der geschickt gespannte Bogen zwischen Deutschland und Japan machen den Film zu einem bleibenden Erlebnis. Es ist vor allem Elmar Weppers schauspielerische Glanzleistung, die einem weinen, lachen und mitfiebern lässt. Mit traumwandlerischer Sicherheit, Mut und Hingabe spielt sich Wepper in die Herzen des Publikums und zeigt, wie leicht die schweren Dinge des Lebens plötzlich werden können, wenn man sich einmal für einen Weg entschieden hat. Erst dann, wenn einem nicht länger Konventionen plagen, die Flügel der Seele durch Mutlosigkeit gestutzt werden oder das morgen immer wichtiger scheint als das heute, kann etwas Neues entstehen. Dadurch dass Rudi die Trauer und das Bedauern über nicht Gesagtes überwinden kann erhält Trudis Tod erst einen Sinn — und der Film «Kirschblüten Hanami» eine inspirierende Tragik.
Bild: zVg.
ensuite, März 2008