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Kunst im Alltag: Ein Stadtspaziergang durch Winterthur

By Janine Mey­er

Wir über­queren Strassen im Gänse­marsch, bestaunen comicähn­liche Malerei an Kirchen­wän­den und stellen fest, dass man die Augen ruhig ein biss­chen offen hal­ten kann. Offen für Uner­wartetes, Schönes, Nach­den­klich­es – für die Kun­st im öffentlichen Raum. Der Stadtspazier­gang durch Win­terthur führt vor­bei an Arbeit­en gross­er Meis­ter und Werken unbekan­nter Kün­stler.

Pünk­tlich um 17:30 Uhr hat sich eine Gruppe von etwa zehn Leuten vor dem Büro von Win­terthur Touris­mus im Bahn­hof­s­ge­bäude ver­sam­melt. Es sind Win­terthur­er und Auswär­tige, alle aber mit der Stadt ver­traut, die Sylvia Sei­bold, unsere Stadt­führerin für den heuti­gen Abend, 90 Minuten lang Stadt begleit­en wer­den.

Noch im Inneren des Gebäudes macht sie uns auf das raum­fül­lende Werk von Mario Sala aufmerk­sam. Es ist ein mehrteiliges, ver­spieltes Werk. “Afri­ka» ste­ht in grossen, spiegelverkehrten Let­tern über dem Gang, am einen Ende des Entrées find­en sich bunte Punk­te auf Spiegeln, am anderen Ende zwei Son­nen. Damit habe man im Bahn­hof ein “Plätzchen für die Kun­st ein­räu­men wollen» erk­lärt Sylvia Sei­bold.

Der Güggel und der Bun­de­spräsi­dent

Vom Bahn­hof aus gehts weit­er zum Pfau gle­ich beim Musik­pavil­lon hin­ter dem Manor, ein­er Plas­tik von Alain Gar­nier. Dass Gar­nier Mate­ri­alien ver­wen­det, die er auf Schrottplätzen oder im Sper­rmüll zusam­menge­sucht hat, unter­stre­icht seine Aus­sage: “Nichts, was wir weg­w­er­fen, ist wirk­lich wert­los.»

Die Fig­ur Le paon de Ziegel­hütte ist zwar als Pfau zu erken­nen, wird aber von vie­len schlicht Güggel genan­nt. Gle­ich gegenüber ste­ht eine über­lebens­grosse Büste von Dr. Jonas Fur­rer, dem ersten Bun­de­spräsi­den­ten der Schweiz. Im Gänse­marsch über­queren wir die Strasse und bleiben vor der Fig­ur ste­hen. “Inter­es­sant ist, dass er auf einen Sock­el gehoben wird, obwohl er die Demokratie so vertei­digt hat», erzählt Sylvia Sei­bold schmun­zel­nd.

Der Wer­be­gag und der Ele­fant

Einige Meter weit­er am Stadtthe­ater erfahren wir nicht nur, dass die grauen Plat­ten auf dem Haus aus Blei sind, son­dern auch, dass die vorge­se­hene Ren­o­va­tion und das damit ver­bun­dene Ent­fer­nen der Plat­ten dem The­a­ter­di­rek­tor ganz schön Kopfzer­brechen bere­it­et. Unsich­er ist näm­lich, ob die Bleiplat­ten nach heuti­gen Bes­tim­mungen wieder mon­tiert wer­den dür­fen.

Als gesichert gilt dafür aber die Herkun­ft des Über­na­mens Ele­fan­ten­dusche für den Brun­nen mit dem tropfend­en Dach von Gün­ther Ueck­er: Ein find­i­ger The­a­ter­di­rek­tor hat den Brun­nen in den 1980er Jahren für einen Wer­be­gag genutzt. Er liess min­destens einen Ele­fan­ten des Zirkus Knie durch die “Dusche» spazieren. Dem Ele­fan­ten soll der Gang Spass gemacht haben, dem The­a­ter­di­rek­tor weniger, sind doch unter dem Gewicht des Ele­fan­ten einige Boden­plat­ten geborsten. Weit­eren Ele­fan­ten blieb der Genuss der Win­terthur­er Dusche daher ver­wehrt.

Drei Akte und ein Barock­häuschen

Die Akt­plas­tiken im Stadt­garten, es sind deren drei, ste­hen zwar an promi­nen­ten Plätzen und fall­en den­noch kaum auf. Erst als Sylvia Sei­bold erk­lärt, dass die bei­den Fig­uren im Inneren des Parkes von Kün­stler Her­mann Haller stam­men, jene an der Stadthausstrasse aber von Ger­hard Mar­cks, der übri­gens auch am Bauhaus unter­richtete, fall­en die Unter­schiede auf. Wir spazieren am schmuck­en Barock­häuschen vor­bei, in dem offen­sichtlich ein Fest stat­tfind­et, dringt doch Gelächter und gele­gentlich Gläserklin­gen nach draussen.

Die Wurst und das Eisen­bah­nunglück

Vor dem Hauptein­gang der Axa Win­terthur Ver­sicherung liegt ein rosarotes Etwas im Wass­er, das aussieht, als wäre es aus Papier­ma­ché. Ist es aber nicht, es sind bemalte Alu­mini­umplat­ten, die da im Wass­er schwim­men. Das Werk heisst schlicht Öl, wird in der Umgangssprache aber viel tre­f­fend­er Wurst genan­nt. Geschaf­fen hat es der öster­re­ichis­che Kün­stler Franz West als Auf­tragswerk für die neue Axa Win­terthur.

Langsam set­zt die Däm­merung ein und die Far­ben ver­lieren an Kraft. Das ist ein biss­chen schade, lebt doch das näch­ste Kunst­werk, eine Eisen­plas­tik des Kün­stlers Sil­vio Mat­ti­oli, von sein­er rot-blauen Far­bge­bung. Im schwinden­den Licht sieht die Plas­tik fast so aus, als wären Zug­wa­gen zusam­menges­taucht wor­den – und wir ver­ste­hen, warum das die Fig­ur den Über­na­men Eisen­bah­nunglück trägt.

Der Holi­di und die Heili­gen

Bevor wir die let­zte Sta­tion auf­suchen, stat­ten wir dem Holz­mann Holi­di beim Oberen Graben einen Besuch ab. Sein Ende scheint trotz eines Sturmes der Empörung beschlossene Sache. Aber immer­hin, so erzählt uns Sylvia Sei­bold, werde darüber nachgedacht, ihm auf dem Fried­hof Rosen­berg die let­zte Ruh­estätte einzuricht­en.

Die let­zte Etappe führt uns zur Stadtkirche, in der ein ein­samer Organ­ist fromme Melo­di­en übt. Sylvia Sei­bold bedeutet uns, leise zu sein und führt uns ins Kirchenin­nere. Wir bestaunen die uner­wartet far­ben­prächti­gen Heili­gen­bilder an den Wän­den, die mit ihren dick­en, schwarzen Aussen­lin­ien und den grü­nen Haaren fast wie Comic­fig­uren ausse­hen. Doch weit gefehlt, der Stil kommt aus der Glas­malerei und ist heute in kaum ein­er Kirche mehr zu find­en, wie Sylvia Sei­bold uns abschliessend erk­lärt.

Nach rund 90 Minuten ist der unter­halt­sam-lehrre­iche Spazier­gang been­det und die Gruppe löst sich noch auf dem Kirch­platz auf, während die Kirchen­türen abgeschlossen wer­den und der Organ­ist wieder ungestört seinen Übun­gen nachge­hen kann.

: http://www.kulturkritik.ch/2013/stadtfuehrung-winterthur-kunst-im-alltag/

Artikel online veröffentlicht: 28. Oktober 2013 – aktualisiert am 18. März 2019