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Merce Cunningham aus der Linie Grahams

Von Kristi­na Sol­dati - John Cage stand vom Klavier auf, nahm Krei­de und malte grosse For­men aufs Par­kett des Cor­nish Col­lege für darstel­lende Kün­ste in Seat­tle. Neben sein­er üblichen Klavier­be­gleitung für Tanzs­tun­den musste er nun kurzfristig einen Chore­o­gra­phielehrer vertreten. «Das ist für Euch die Musik», sollte das bedeuten. Und das näch­ste Mal sagte er: «Kom­poniert ein rhyth­mis­ches Stück für ein Schla­gin­stru­ment.» Der Stu­dent Mer­ce Cun­ning­ham fühlte sich durch diesen reflek­tierten Umgang mit dem Tanz gefordert ganz im Gegen­satz zu Ini­ti­a­tionsver­suchen à la Isado­ra Dun­can, ein­er Pio­nierin des freien Tanzes. Diese brachte ihre Schüler in die Sog­wirkung der Musik, welche in ihrem Inner­sten etwas aus­lösen und zur Impro­vi­sa­tion bewe­gen sollte. Die Vor­re­it­er des neuen und von Vir­tu­osität und Manieriertheit befre­it­en Tanzes, Isado­ra Dun­can und Ruth St. Denis, hat­ten verkün­det: hin­ter jed­er Bewe­gung steckt ein psy­chis­ch­er Zus­tand (eine Moti­va­tion). Wir sahen, Martha Gra­ham und Doris Humphrey hiel­ten an dieser Idee fest, während ihre Lehrer Ruth St. Denis und Ted Shawn zur Beute der Unter­hal­tungsin­dus­trie wur­den. Die besagte Idee nahm in den sozial brisan­ten Jahren der 30er gesellschaft­skri­tis­che Gestalt an und formte die Bewe­gung und entsprechende Lin­ien: kon­vul­sivis­che Krüm­mung des Oberkör­pers, ein­wärts gedrehte Glieder, angewinkelte Füsse, erdi­ge mitunter per­cus­sive Bewe­gun­gen, gehöhlte Hände. Die Natür­lichkeit bestand bei der Entwick­lung des Mod­er­nen Tanzes im Stile Gra­hams und Humphreys darin, dass solche eck­i­gen Auswüchse mit­tel- oder unmit­tel­bar starken Gefühlen entsprangen. Mer­ce Cun­ning­ham sieht darin eine (transat­lantis­che) Erb­schaft des deutschen Aus­druck­stanzes. Mer­ce ehrt die Errun­gen­schaften des freien Tanzes: eines uner­schöpflichen und an kein­er ästhetis­chen Erwartung­shal­tung gebun­de­nen Bewe­gungs­vok­ab­u­lars. Doch es gilt nach ihm, den Tanz noch von ein­er let­zten Bindung zu befreien: dem Aus­druck. Der Tanz soll kein Träger mehr von einem Gehalt sein, wed­er emo­tionaler noch nar­ra­tiv­er Art.

Mer­ce wurde am Col­lege von einem Gra­ham-Solis­ten geschult, bis Martha Gra­ham 1939 auf ihn aufmerk­sam wurde. Sie lock­te ihn nach New York, in ihre Com­panie. Beein­druckt von ihrer Arbeit, notierte sich Mer­ce: «Nach­dem ich sie tanzen sah, fragte ich mich, wie kann der Rest der Welt sich nur beg­nü­gen zu laufen?» Auch John Cage debütierte zu Beginn der 40er in New York (in einem Stück für Schla­gin­stru­mente, inter­pretiert u. a. — von Tänz­ern!). Er ermunterte Mer­ce, selb­ständig aufzutreten. Daraufhin ent­standen innert weniger Jahre so unter­schiedliche Tänze wie «Cre­do in Us», «Root of an Unfo­cus» und «Mys­te­ri­ous Adven­ture», alle zu Cages Musik. Dem «Cre­do» unter­liegt ein dadais­tisch klin­gen­der Text, den sie vor­gaben, aus ein­er Paris­er sur­re­al­is­tis­chen Zeitschrift ent­nom­men zu haben. Der Autor war jedoch Mer­ce. In «Unfo­cused» weicht der Solist, zunächst noch den Büh­nen­raum nutzend, immer weit­er zurück, bis er schliesslich nur noch seinen sub­jek­tiv­en Raum ein­nimmt. Das Zurück­we­ichen ist ruckar­tig, Kopf und Fokus wech­seln gemein­sam. Wie ein Tier, das in die Enge getrieben wird. Dort gibt es kein hor­i­zon­tales Entkom­men mehr, und er sinkt schliesslich in sich zusam­men. In «Mys­te­ri­ous Adven­ture» har­rt Mer­ce reg­los in Boden­nähe, bis er urplöt­zlich in skur­rile Sprünge hochschnellt mit ein­er Kopf­be­deck­ung und lan­gen wip­pen­den Füh­lern. Während Martha Gra­ham also The­men amerikanis­ch­er Tugen­den und griechis­ch­er Mythen abend­fül­lend anging, hüpfte Mer­ce, so scheint’s, insek­ten­gle­ich umher oder: sagte dem Pathos den Kampf an.

Beziehung Tanz — Musik Und wie sieht eine frucht­bare Zusam­me­nar­beit zwis­chen befre­un­de­ten Chore­o­graphen und Kom­pon­is­ten aus? Mer­ce mass, wie lange die Form auf dem Par­kett (das Boden­muster aus Krei­de) brauchte, getanzt zu wer­den, und über­re­icht die Zei­tangabe John Cage. Er wiederum schaute sich nach eini­gen Kon­ser­ven, ein­er elek­trischen Klin­gel und Radio um, kom­ponierte ihre Geräusche und brach die Kom­po­si­tion rechtzeit­ig laut Bestel­lung ab.

Was die bei­den, Chore­o­graph und Musik­er, also bis zu den Haupt­proben ver­band, war die Stop­puhr. Dann wurde Tanz und Musik miteinan­der kon­fron­tiert. Geglückt war die Vor­führung, wenn Chore­o­gra­phie und Musik zeit­gle­ich den Beifall ent­ge­gen­nehmen kon­nten.

Exper­i­mente Dadais­ten wal­teten die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun­derts auch in New York. Sie hat­ten dort einen noch iro­nis­cheren und humor­volleren Ton als die kriegs­geprägten europäis­chen Genossen. Der Dadaist Mar­cel Duchamp, ja, der mit dem Pis­soir, hat­te, als er nach Ameri­ka emi­gri­erte, einen grossen Ein­fluss auf die Sur­re­al­is­ten in New York. Sie alle disku­tierten und feierten bis in die späten Stun­den in der Cedar Bar die Ablö­sung der Kul­turmetro­pole Paris durch New York. Auch John Cage schätzte Duchamp und organ­isierte 1944 eine Ausstel­lung über ihn. Duchamps «Ready-mades» (Fer­tig­pro­duk­te) inspiri­erten Mer­ce dazu, Bewe­gun­gen aus dem All­t­ag in den kün­st­lerischen Kon­text, der Chore­o­gra­phie, einzubauen. (Und das zwanzig Jahre vor dem Tanzthe­ater in Deutsch­land). Ander­er­seits zogen die Sprachex­per­i­mente eines James Joyce bei­de in Bann. Mer­ce und John durch­stöberten gemein­sam den neuen Roman «Finnegans Wake», ein gross­es Sprach­la­bor. Und wie bei Joyce schmolzen ihnen die Worte «Holy Ghost» zu «halo cast», dann aber zu — «Holo Caust». «In the Name of the Holo Caust» wurde sodann der Titel zu ein­er Chore­o­gra­phie im Jahre 1943. Ein Auswurf des ahnungslosen Bewusst­seinsstroms? Es wurde ein Stück, zu dessen Bedeu­tung, seinen Prinzip­i­en treu, Mer­ce sich auss­chweigt.

In den späten 40ern taucht­en Cun­ning­ham und Cage in ein­er heis­sen Kün­stler­schmiede, dem Black Moun­tain Col­lege in North Car­oli­na auf. Dort trafen sie auf bildende Kün­stler wie Bill Cloon­ing, Franz Kline und Robert Rauschen­berg. Es zog das Ges­pann Cage und Cun­ning­ham immer wieder dor­thin. Bei einem ihrer Aufen­thalte ent­stand ganz spon­tan der Pro­to­typ unser­er Even­tkul­tur, das erste Hap­pen­ing. Die Zuschauer, meist Mit­glieder der Kun­stschule, wur­den in die Saalmitte plaziert. Auf ihren Stühlen warteten Kaf­fee­tassen, die man im Laufe des Abends füllte. John Cage trug von ein­er Leit­er aus seine The­o­rie der gegen­wär­ti­gen Beziehung der Musik zum Zen-Bud­dhis­mus sowie aus der Mys­tik des Meis­ter Eck­harts vor. Robert Rauschen­berg hat­te mono­chrome weisse Gemälde an die Decke befes­tigt, auf die er nun Dia­bilder pro­jizierte. Der Rek­tor, ein Avant­garde-Dichter, rez­i­tierte Verse. Ein Vir­tu­ose der zeit­genös­sis­chen Musik inter­pretierte Cages Wasser­fall­musik für prä­pari­ertes Klavier. Eine Edith-Piaf-Schallplat­te drehte sich mit dop­pel­ter Umlaufzeit, während ein Hund bel­lend Cun­ning­hams Tanzschrit­ten nach­jagte. Die Auftritts­dauer der Mitwirk­enden wurde aus­gelost. Antonin Artaud hätte die rein­ste Freude am Aktion­sthe­ater gehabt. Alles ward wie es im Buche ste­ht, näm­lich in seinem irren Man­i­fest «Das The­ater und sein Dou­ble» (1938). Es wurde Kapi­tel für Kapi­tel im Black­moun­tain Col­lege dieser Tage über­set­zt.

Aleatorik Seit Anfang der 50er ver­wen­den Cage und Cun­ning­ham regelmäs­sig das Zufall­sprinzip im Schaf­fen­sprozess. Cage ist augen­schein­lich vom Zen bee­in­flusst, wenn er meint: «Wer­turteile spie­len kein­er­lei Rolle bei dieser Arbeit, wed­er beim Kom­ponieren, Inter­pretieren noch beim Hören. Es beste­ht kein Wille, etwas in Beziehung zu set­zen. Egal was kann sich ereignen. Und es kann sich kein Fehler ergeben. Sobald ein Ereig­nis entspringt, existiert er automa­tisch.» Ein qual­i­ta­tives Wer­turteil über seine Musik soll an dieser Stelle entsprechend unterbleiben. Cun­ning­hams Werk dage­gen soll nicht ver­schont wer­den. Wie kam der Zufall bei seinen Tänzen ins Spiel? Wurde gelost, wer auf die Bühne sollte? Das war tat­säch­lich am Anfang der Fall. Aber der Chore­o­graph schwitzte Blut. «Da kön­nen wirk­lich Knochen brechen!», gab er zu. In ein­er Vor­lesung wenige Jahre später weiss er Bescheid: «Es gibt wohl ein greif­bares Risiko des Zusam­men­stoss­es, aber laut John Cage ist eine Bes­tim­mung der Chore­o­gra­phie her­auszufind­en, wie ein Auf­prall ver­mei­d­bar ist, auss­er, wo er das ver­fol­gte Ziel darstellt.» Die Lösung ist, nicht vor der Auf­führung zu wür­feln, son­dern vor dem Chore­o­gra­phieren. Er zog über die Schritte und ihre Folge das Los. Oder aber er ermit­telte einzelne Aspek­te, die es zu kom­binieren galt. «Luft», «Stand», «Tief», «Boden» sind Aspek­te, die mit Rich­tun­gen wie «vor­wärts», «seitlich», «rück­wärts» kom­binier­bar sind und eventuell noch mit einzel­nen Kör­per­gliedern. Die Her­aus­forderung an Chore­o­graph wie Tänz­er bestand darin, den direk­testen Weg zwis­chen den je aus­gelosten Kom­bi­na­tio­nen zu erkämpfen. In «Untiteld Solo» hat­te Mer­ce nach diesem Ver­fahren eine vier­fache Pirou­ette aus dem Stand zu bewälti­gen. Mer­ce übte bis zum Umfall­en. Der erwäh­nte Klaviervir­tu­ose begleit­ete ihn und kon­sta­tierte: «Es ist ein­deutig unmach­bar. Doch wir machen’s alle­mal!», eben dada.

Was steckt für Cun­ning­ham hin­ter dem Los-Prinzip? Cun­ning­ham wollte das Werk aus den Fän­gen des per­sön­lichen Aus­drucks des Kün­stlers befreien. Indem er sich dem Los unter­wirft, räumt er dem Tanzw­erk eine grössere Vielfalt ein, als wenn er seinen Vor­lieben und einge­fahre­nen Abläufen «intu­itiv» fol­gt. Er ste­ht deshalb dem natür­lich Emp­fun­de­nen skep­tisch gegenüber. Mer­ce ver­wirft so die unlängst erst von den Ver­fechtern des freien Tanzes wieder­ent­deck­te psy­chol­o­gis­che Motiviertheit von Bewe­gun­gen. Und gewin­nt dafür eine Maschiner­ie uner­warteter Abläufe über­raschend kom­biniert­er Glied­massen. 

Mer­ce und die Klas­sik Jede Art von Bewe­gung inter­essierte Mer­ce. Er fühlte sich bei Martha Gra­ham nicht aus­ge­lastet. Sie merk­te dies und schick­te ihn zur Amer­i­can Bal­let School, dem feindlichen Lager der Klas­sik. «Was führt Dich hier­her?», fragte auch prompt der Direk­tor, der Förder­er George Bal­anchines und dessen neok­las­sis­chen Bal­letts. «Das Tanzen an sich», war die Antwort. Mer­ce ver­bre­it­erte sein Bewe­gungsreper­toire, indem er sich das Vok­ab­u­lar der klas­sis­chen Tech­nik ein­ver­leibte. Den­noch, unweiger­lich hal­ten damit geometrische Lin­ien (gestreck­te Beine, ovale Arme) und Sym­me­trien Einzug in sein Schaf­fen. Kein Prob­lem! Der Wür­fel wird das alles durch­mis­chen. Mer­ce dekom­poniert überkommene Fig­uren wie eine Arabesque: Er fügt dem hin­ten hor­i­zon­tal gestreck­ten Spiel­bein einen nach vor geneigten, gewölbten Oberkör­p­er hinzu. Was nützt es der tradierten Fig­ur, wenn die Arme brav in der «1. Posi­tion» sich run­den, der Kopf aber hängt? Eigentlich kön­nte das Bal­let sich bedanken. Cun­ning­ham hat ihm ein fün­ftes Glied­mass beschert: neben Armen und Beinen den Rumpf. Auch dieser habe Gelenke, meint Mer­ce die Wirbel. Mit ihnen kann das neue Glied­mass fünf Posi­tio­nen dem Bal­lett anscheinend beis­teuern (wie die fünf jew­eils der Arme und Beine): die Aufrechte, die Krüm­mung nach vorne, Biegung nach hin­ten, die Ver­drehung und Nei­gung. Wie auch immer.

Der Cun­ning­ham-Stil Aus all dem set­zt sich Cun­ning­hams Stil zusam­men: 1. Die pietät­lose Demon­tage jeden Stils, des mod­er­nen wie des klas­sis­chen, aber auch des Step­tanzes oder der Folk­lore aus Neugi­er auf seine Ele­mente. 2. Ihre erneute Zusam­men­fü­gung, so über­raschend wie nur möglich. 3. Die Dynamik. Auch diese unter­liegt dem Prinzip der Dekon­struk­tion (ein Begriff, der später dem berühmten Chore­o­graphen William Forsythe zugewiesen wird). Die Dynamik ent­fal­tet sich nicht aus ein­er ele­mentaren Kör­per­erfahrung wie dem Atmen, das sich organ­isch in eine Kon­trak­tion und Auflö­sung (Gra­ham) oder ein Fall­en und Zurück­prallen (Humphrey) auswächst. Cun­ning­ham ist da ganz post­mod­ern. Er nimmt alles, was gegeben ist. So scheut er auch nicht, die Motorik der Tier­welt zu ver­w­erten. Ein nervös­er Vogelkopf find­et sich eben­so in seinem Tanz wie sich reibende und stelzende Storch­beine.

Indem seine Stücke offiziell kein­er inneren Logik fol­gen, die Anzahl, For­ma­tion und Plazierung der Tänz­er keinen chore­o­graphis­chen Richtlin­ien und auch keinen inhaltlichen Zwän­gen fol­gen, braucht zu seinem Ensem­ble-Stil nur bemerkt zu wer­den: Jed­er ist in sein­er Gruppe gle­ich­w­er­tig und hat mal ein Solo, so wie auch jed­er Platz auf der Bühne gle­ich­w­er­tig ist. Ob ein Solo hin­ten in der Ecke passiert und die Gruppe sich davor posi­tion­iert, ist dem Wür­fel über­lassen. (Wie soll man einen solchen Zufall aber aus­machen / bemerken / erken­nen?) Die Simul­tane­ität des Geschehens auf der Bühne wird zur Tugend.

Einen Fremd­kör­p­er gab es allerd­ings durch­weg im Œuvre von Cun­ning­ham, bekun­den langjährige Tänz­er sein­er 1953 gegrün­de­ten Com­panie. Und das ist Mer­ce selb­st. Als ob er die eige­nen Bewe­gun­gen nie in das Losver­fahren einge­speist hätte und somit auch nicht zufäl­lig auf der Bühne mit den anderen zur Deck­ung kam. Er stach meist vom Ensem­ble ab, eine «Alien­ation», wie manche es nen­nen. Eine Inkon­se­quenz oder ein Kon­tra­punkt? Was immer, es ver­stärk­te sich mit sein­er zunehmenden Arthrose. Para­dox­er­weise kön­nen zeit­genös­sis­che Chore­o­graphen, die seinen for­malen Spie­len, dem eigentlichen Cun­ning­ham-Stil, nicht mehr viel abgewin­nen kön­nen, in sein­er krankhaften unentz­if­fer­baren Kör­per­sprache viel Span­nen­des ent­deck­en.

Bild: Richard Rut­ledge
ensuite, Jan­u­ar 2008