Von Sonja Wenger - Erinnern Sie sich an die Zeit, als es auf den Fernsehkanälen noch sendefreie Stunden gab? Mit der genau gegenteiligen Situation beschäftigt sich der Film «Free Rainer — Dein Fernseher lügt» (Kritik siehe ensuite Oktober) von Regisseur Hans Weingartner, den das Thema gezielte Verdummung seit Jahren umtreibt.
Herr Weingartner, sehen Sie überhaupt noch fern?
Nein. Ich habe meinen Fernseher abgeschafft weil ich suchtgefärdet bin, wie meiner Meinung nach die meisten Fernsehkonsumenten heutzutage. Als ich früher halbtot von der Arbeit nach Hause gekommen bin, hatte ich zu nichts mehr Kraft, ausser mich auf die Couch zu setzen und stundenlang zu zappen. Irgendwann ist mir klar geworden, dass mich das depressiv macht, dass ich da einer Droge anheimgefallen bin.
Haben Sie aufgehört fernzusehen, bevor oder nachdem Sie sich mit «Free Rainer» beschäftigt haben?
Ich habe Jahre vor dem Film damit aufgehört. Aber um auf dem neuesten Stand zu sein, habe ich vor dem Schreiben des Drehbuchs nochmals drei Monate lang jeden Tag fünf Stunden geschaut und war danach wirklich reif für die Klapse. Das Menschenbild, das einem da vermittelt wird, hat mich sehr deprimiert, besonders bei diesen Realityshows wie beispielsweise «Big Brother», den Castingshows oder den ganzen Promimagazinen — da kann man wirklich den Glauben an die Menschheit verlieren. Es gab in den achtziger Jahren, mit dem Aufkommen des Privatfernsehen, schon mal grosse Diskussionen über den zunehmenden Fernsehkonsum. Inzwischen beträgt der europäische Durchschnitt vier Stunden. Ich habe mich gefragt, wer all die traurigen und einsamen Menschen vor der Glotze sind, bin aber schnell drauf gekommen, dass man versucht, mit ausgeklügelten psychologischen Methoden die Leute süchtig zu machen und an den Fernseher zu binden.
Was wäre ein Beispiel für diese Methoden?
Katarina Held, die Co-Autorin des Drehbuchs, hat mir ein Beispiel erzählt: In einem Seminar zum Drehbuchschreiben für Serien wurde ihnen vorgegeben, dass alle paar Minuten mindesten ein Hund oder ein Kind durchs Bild laufen müsse. Denn Menschen lieben Hunde und Kinder und dadurch würden gewisse Instinkte angesprochen. Zu einem gewissen Teil gehört das natürlich schon zur Unterhaltung, schliesslich spreche ich in meinen Filmen auch Mythen an. Aber es ist schlimm, wie zynisch diese Methoden betrieben werden, nur um die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben.
«Free Rainer» ist also ein Film gegen den Zynismus?
Ja. Ich betrachte es zum Beispiel als sehr zynisch von der intellektuellen Elite, dass sie sich mit diesem Thema nicht mehr auseinandersetzt. Sie zieht sich zurück und sagt: Unsere Kinder schicken wir auf die Privatschule, dort lernen sie Latein und Griechisch, und wir haben ja unsere Literatur, unser Theater und unseren Rotwein. Die grosse Masse ist halt einfach blöd und die Leute haben es nicht anders verdient. Das ist ein total negatives Menschenbild, das mir zum Hals raushängt. Keiner denkt daran, dass die meisten Menschen gar keine Kraft mehr haben für eine andere Freizeitbeschäftigung, oder dass besonders alte Menschen einfach einsam sind. Und um genau die Mechanismen zu verstehen und sich befreien zu können, braucht man ja erst mal eine gewisse Aufgeklärtheit, die genau diese Bevölkerungsschichten eben nicht haben.
Aber ist das nicht das Hauptproblem? Genau die Leute, die es eigentlich betrifft, gehen gar nicht mehr ins Kino, eben weil sie vielleicht keine Kraft dazu haben.
Oder weil sie nur noch Hollywoodfilme verstehen. Weil sie sogenannte Arthousefilme gar nicht mehr begreifen, weil ihr Geschmack systematisch ruiniert wurde. Man hat zum Beispiel festgestellt, dass Jugendliche, die ihr Leben lang Fastfood konsumiert haben, gar keine Olive mehr essen können, weil der Geschmack für sie unerträglich ist.
Was müsste denn passieren, damit man das alles überwinden könnte?
Es müsste ein grosses Umdenken stattfinden. Wir müssten aufwachen und erkennen, dass unsere Demokratie nur funktionieren kann, wenn Wissen und Bildung gerecht verteilt sind. Die Demokratie basiert auf Partizipation, die aber aufhört, wenn die Leute nicht mehr Bescheid wissen. So wie das jetzt in den USA der Fall ist. Wie kann man denn so vielen Menschen solche dreisten Lügen wie über den Irak auftischen? Das hat nur funktioniert, weil die US-Fernsehsender bei dieser Lüge und Propaganda mitgemacht haben. Eine gut informierte Bevölkerung hätte nie zugelassen, dass man im Irak einmarschiert. Aber auch in Deutschland tritt die gezielte Verdummung deutlich zu Tage. Am besten erkennt man das am Niedergang des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Die produzieren inzwischen denselben Schund wie die Privaten. Dabei wurden diese Sender nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, um die Bevölkerung zu informieren und zu verhindern, dass so etwas wie der Faschismus noch einmal passieren kann. Und jetzt wird das abgeschafft. Es ist schon erschreckend, wenn man sich die Nachrichten anschaut und sieht, in welchem Ausmass über Paris Hilton und Britney Spears berichtet wird. Das Problem ist aber nicht, dass man sich nicht übers Internet oder durch Zeitungen informieren könnte, sondern dass die echten Informationen durch die vielen Nullinformationen überschüttet werden
Es ist also eine Frage des Filters?
Genau. Denn eigentlich sollten ja die Medien medieren, vermitteln zwischen dem Publikum und der Realität, aber das tun sie nicht mehr. Stattdessen verdecken sie die Realität und der so vernebelte Zuschauer merkt das immer weniger. Immer mehr Leute begreifen das Fernsehen und die Daily Soap auch als Lebensersatz, weil sie selber keine sozialen Strukturen mehr haben. Fünfzig Prozent der Haushalte in Berlin sind Singlehaushalte. Ein schreckliches Bild, wenn man sich vorstellt, wie all die einsamen Menschen nachts vier Stunden alleine vor diesem blauen Licht sitzen. Kein Wunder, geht die Zahl der psychischen Erkrankungen so extrem nach oben und gibt es immer mehr Depressionen und Angststörungen. Fünf der zehn am häufigsten verkauften Medikamente sind Psychopharmaka. Da kann doch was nicht stimmen. Aber die Leute glauben immer noch, dass alles gut ist, weil sie jeden Tag so viele glückliche Menschen im Fernsehen sehen.
Hans Weingartner
1970 in Österreicher geboren, ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Filmemacher, der besonders durch seine unmittelbar politischen Themen auffällt. Sein Film «Die fetten Jahre sind vorbei» war 2004 ein internationaler Erfolg, sein neuestes Werk «Free Rainer — dein Fernseher lügt» läuft seit dem 29.11. in den Kinos.
Bild: Sonja Wenger
ensuite, Dezember 2007