«Er vergass nicht einen Augenblick, dass er die «ganze Verantwortung» für «das Blatt» trug und dass er unaufhörlich Gefahr lief, eine falsche Nachricht für eine richtige zu halten, eine richtige für falsch, eine wichtige für belanglos, eine Kleinigkeit für wichtig.»
Joseph Roth Panoptikum
Von Dr. Regula Staempfli - Dass die Zeit zusammenbricht, erkenne ich jedes Mal, wenn ich meinen ehemaligen Schwarm namens Facebook besuche. Alles, was vor sieben Jahren neu, aufregend, verführerisch, informativ, lustvoll, menschlich, freundschaftlich und wie Aufbruch schmeckte, ist ein Konglomerat von unzulänglich rasenden Gedanken.
Wo früher Menschen posteten, sind es jetzt wütende Maschinen (Ausnahmen bestätigen die Regel). In ihnen spiegeln sich Referenzen, deren totalitärer Charakter mit Listen, sprachlicher Überwachung und der Identität zwischen Körper und Politik jeden Thermometer politischer Vernunft sprengen. Wo früher Menschsein experimentell, zweckfrei, ja ein Bündel voller Möglichkeiten war, zeichnen sich organismusfressende Wort-Maschinen mit Menschengesichtern ab. Sie formulieren Diskurs, wo Demokratie gefragt ist.
Die Gesellschaft ist momentan im Maschinen-Zahl-Stechschritt. Die kulturellen Kampagnen der post-fragmentierten Gegenwart quietschen an jeder Ecke und propagieren neue Ideen- und Denkverbrennungen. Sie sind mächtig, weil sie so tun, als wären sie Verbündete im Kampf für Demokratie, Anti-Rassismus und gegen den Sexismus – letzteres wird von Yuval Noah Harari in einem kleinen Kapitel «Die Geschichte ist nicht gerecht» kurz skizziert.
Der Kampf gegen Sexismus erweist sich dabei in den sozialen Medien als besonders perfide Fiktion, da er das Gegenteil beinhaltet, indem nicht zuletzt der Hashtag-Feminismus zur willigen VollstreckerIn mutiert, die die neoliberale Verwertbarkeit alles Lebendigen befördert. Menschen, Tiere, Natur werden in Hyperlinks und ‑Texten zum Diskurs umfunktioniert und in Codes gefasst, die aus jedem Organismus lebende Münzen machen. Was früher Freundin war, ist jetzt die HerrscherIn-Arithmetik: Mittels Nullen und Einsen werden strikte Regeln für den neu zu beschriftenden Körper erstellt. Hashtags und Hyperlinks schlagen erbarmungslos zu und verbünden sich blindlings mit jenen, die schon länger daran rechnen, uns alle zu enteignen. Deshalb konzentriert sich der Diskurs statt auf den Ort zwischen den Ohren auf den zwischen den Beinen. Hier wird verhandelt, verkauft, gekauft und umdefiniert. Das Geschlecht stellt somit den Auftakt dar für die Umwandlung alles Lebendigen in Information, in die Vermesserlogik, in den Dataismus, wie Harari ihn nennt. Alles ist verhandelbarer Code – und so unterscheiden sich Menschen in nichts ausser dem Etikett, das ihnen der Diskurs zugewiesen hat. Kein Wunder spekulieren die Finanzmärkte schon längst mit SamenBANKEN, Gefrierkühltruhen für MenschEIER (Embryo2go) und Leihmutterschafts-OPTIONEN. Fleisch, Erde und Blut sind in dieser Lesung nichts anderes als Codes, Daten und Diskurs. Einmal beschriftet, lassen sie sich perfekt verMARKTen.
Einige TheoretikerInnen des Schreckens propagieren nun, maschinell und medial omnipräsent, dass alles, wirklich alles Dienstleistung sei. Sex hat in dieser Lesart nichts mit dem Körper zu tun, sondern wird zur Dienstleistung hochstilisiert (wie kürzlich in einem TSÜRI-Artikel. In diesem Weltbild spielt es keine Rolle, ob flüchtende Finger über die Tastatur streichen oder stundenlang einen Schwanz massieren – beide Tätigkeiten lassen sich in Kredit umwandeln.
Ist Fleisch einmal eine Diskurskategorie, kann es in jeder Form transformiert, angeboten, verkauft und gekauft werden. Egal ob Mensch, Tier oder Laborextrakt: Alles ist verdienstleistbar und damit verdinglichbar. Ideologisch wird dieser Prozess als Freiheit und Emanzipation oder als Kampf gegen den Sexismus verkauft. Stichwort Leihmutterschaft: «Im Zeitalter der Fortpflanzungsmedizin ist nicht nur die Vaterschaft, sondern auch die Mutterschaft in erster Linie ein Bekenntnis zum Kind.» (NZZ, 10.4.2014) Dies schreiben die Präsidentin der nationalen Ethikkommission, Andrea Blücher, und die «Sternstunde»-Moderatorin Barbara Bleisch. Klarer könnte die diskursive und monetäre Verwertung von Menschen durch die Abstraktion und Verfügbarmachung des weiblichen Körpers nicht legitimiert werden. Das Neusprech geschlechterneutralen Herrschaftslogiken etabliert somit eine «neutrale» Datenerfassung von menschlichem Fleisch. Dies ist dem Prozess der Datenverarbeitung in den industriellen Tierfabriken durchaus verwandt.
Ist der Körper im geschlechterneutralen Herrschaftsdiskurs mittels Dienstleistungparadigma regelrecht entleibt, wird auch Gewalt nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sondern ausschliesslich diskursiv verhandelt. Exemplarisch dafür steht die Verteidigung der sexuellen Gewalt durch Judith Butler und Sabine Hark in «Die Zeit» vom 2.8.2017. Am Beispiel der Kölner Silvesternacht wird sexuelle Gewalt als performativ unschöner Akt charakterisiert, da er medial im Kontext von fremd und national verhandelt wurde und somit weniger mit Gewalt als mit Rassismus zu tun habe. So schreiben Butler und Hark: «Zum Beispiel haben die unmissverständlich zu verurteilenden Angriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht einen Anlass für die Mobilisierung von Gender, Sexualität und einer bestimmten Vorstellung von Frauenemanzipation geboten, die zur Rechtfertigung rassistischer beziehungsweise islamfeindlicher Ausgrenzungspolitiken dienten.»
Man beachte den performativen Sprechakt von «zu verurteilenden» und man beachte, wie sexuelle Gewalt als Diskurs behandelt wird. Die Gewalt gegen Frauen in der Kölner Silvesternacht wird mit islamfeindlicher Ausgrenzungspolitik gleichgesetzt. So schreiben Butler und Hark: «So stehen wir wieder einmal vor der Aufgabe, uns zu fragen, wie Rassismus und Gewalt gegen Frauen innerhalb desselben Rahmens adressiert werden können.» Desselben Rahmens? Gewalt an Frauen als Diskursproblem? Ein Diskurs, der keinen Körper, keinen Täter, keinen Hinter- und Abgrund erwähnen darf und kein Geschlecht, da alle Geschlechter von Gewalt betroffen sind? Frauenemanzipation muss abgelehnt werden, wenn sie «islamfeindlich» ist? So wird die sexuelle Gewalt vom realen Körper ebenso abstrahiert wie der vergewaltigende Körper entschuldigt wird. Die Konsequenz dieses Diskurses ist damit die Gleichsetzung von Täter und Opfer. Beide sind in Unterdrückung eines rassistischen heteronormativen Systems gefangen, sodass sich die Autorinnen um ihren «Rahmen», wie sie dies gendergerecht adressieren könnten, viele Gedanken machen und sich nicht über die sexuelle Gewalt sorgen.
Wer Herrschaft mittels diskursiven Gender-Neusprechs verleugnet, gleichzeitig aber diskursive Wahrheitsansprüche stellt, macht sich zu den mächtigen Verbündeten jener Kräfte, deren mathematische Sonderschrift schon länger auf die Auslöschung aller Unterschiede zwischen Organismus und Algorithmus hinarbeitet. Ist Gewalt nur noch Diskurs, wird dieser zu einem äusserst gewalttätigen Instrument.
Literatur: Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2013