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Schwarze Spuren

Von Car­men Bey­er – An unseren Sachen klebt schwarze Farbe. An der Jacke, Hose, manchen an den Hän­den und im Gesicht. Über­all diese dun­klen Fleck­en und Streifen. Es sind die Spuren ein­er Berührung, die meist unvol­len­det blieb, manch­mal ver­mieden, manch­mal gesucht wurde. Und es sind Spuren ein­er Erfahrung, die sinnlich­er und ein­drück­lich­er kaum an einem Per­for­mance­abend entste­hen kann.

Beobach­t­en­der und Beobachteter

Als wir Zuschauer in das Foy­er der Werft gelassen wer­den, ist dieses bere­its bis auf ein spär­lich beleuchtetes Büh­nen­quadrat abge­dunkelt. Hän­gende Röhren­lam­p­en, die einzi­gen Lichtquellen, tren­nen das Quadrat von dem Rest des Raumes ab, deuten den Schau­platz des Abends an. Hil­f­skräfte weisen uns dazu an, die Taschen an den Seit­en zu deponieren. Wieso? Weil wir nicht auf ein­er Zuschauer­tribüne platziert wer­den, son­dern in das Quadrat ein­treten sollen. Zu ihnen.

Ihnen, das sind die fünf Tänz­er der Kün­st­ler­gruppe “Demo­li­tion Inc.» um den brasil­ian­is­chen Chore­ografen Marce­lo Evelin. Zur wabern­den elek­tro­n­is­chen Sound­kulisse tauchen sie in der Per­for­mance “Sud­den­ly Every­where Is Black With Peo­ple» plöt­zlich neben uns in einem Eck des Quadrats auf. Voll­ständig schwarz bemalt; sie sind ein men­schlich­er Knoten aus ineinan­der ver­schlun­genen Armen, Beinen, irgend­wo Köpfe, der sich mit trip­pel­nden, gle­ich­mäs­si­gen Schrit­ten ent­lang des Büh­nen­quadrats auf uns zu bewegt. Wir weichen ihm aus, sodass es aussieht als ziehe sich schwarzes Gebilde durch bunte Materie. Erst reis­sen Lück­en auf, die sich sofort wieder schliessen. Nie weichen wir vom Rand, nie rück­en wir zu weit in die Mitte, nie vere­inzeln wir uns.

Das Fremde & Andere unter uns, an uns

Wir reagieren damit, wie es Schrift­steller Elias Canet­ti an den Beginn sein­er anthro­pol­o­gis­chen Schrift “Masse und Macht» schrieb: “Nichts fürchtet der Men­sch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.»In dem Werk von 1960, das auch Evelin als Inspi­ra­tionsquelle für seine Per­for­mance ver­wen­det, inter­essierte sich Canet­ti für die Dynamik von Men­schen­massen. Wenn sich Men­schen zu ein­er Masse zusam­men­schar­ren, vol­lziehen sie damit nicht ein­fach eine poli­tis­che, gesellschaftliche Bewe­gung. Sie ahmen einan­der nach – ein Phänomen, das nicht nur eine men­schliche son­dern eine uni­verselle Erschei­n­ung ist. Die Masse erzeugt ein ver­bun­denes Raumer­leb­nis, also eine physis­che Erfahrung.

In “Sud­den­ly Every­where Is Black With Peo­ple» wird diese Erken­nt­nis zu einem sinnlichen Erleben über­set­zt und dafür alle son­sti­gen Rol­len­zuschrei­bun­gen aufge­hoben. Wir sind nicht Zuschauer ausser­halb des Büh­nen­raums, son­dern Haup­tak­teure auf der Bühne, wer­den beständig von den schwarzen Gestal­ten beobachtet, reagieren auf ihre Bewe­gun­gen mit unserem eige­nen Kör­p­er. Und wir beobacht­en uns gegen­seit­ig bei unseren Reak­tio­nen. Wir nehmen wahr, wie ein schle­ichen­der Wech­sel in unseren Hand­lun­gen entste­ht und die schwarze Masse aus Tänz­ern weniger bedrohlich erscheint und das wenige Licht es zulässt, schwarz von schwarz zu unter­schei­den bis im Men­schenknäuel Augen, Haare, Mün­der, Busen und andere kör­per­liche Fein­heit­en erkennbar wer­den.

Evelin & Demo­li­tion Inc. bieten so eine Antwort und einen Ausweg aus der Furcht vor dem bedrohlichen Unbekan­nten und sein­er Berührung: Indem wir ihm ent­ge­gen gehen, uns nicht vom Anderen ent­fer­nen son­dern näh­ern, bis wir ihm so nahe sind, dass sein Ander­s­sein aufhört. Es ist die Stärke des Abends, all diese Ebe­nen in ein­er so sim­plen und unangestrengten wie ein­drück­lichen und poet­is­chen Per­for­mance darzustellen, dass wir uns danach zutief­st berührt fühlen und die schwarze Farbe der Tänz­er bei unser­er Berührung abfärbt. Und sie eine Spur hin­ter­lässt auf unser­er Klei­dung, in unser­er Hal­tung.

http://www.kulturkritik.ch/2014/theaterspektakel-marcelo-evelin-demolition-inc/

Artikel online veröffentlicht: 30. August 2014 – aktualisiert am 12. März 2024