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«Señora Gerta»: Die Seele einer Autorin, ihrer Hauptfigur und der Ton der Zeit

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Die zauber­hafte Jour­nal­istin und Sach­buchau­torin Anne Siegel, hat die unglaubliche Lebens­geschichte von Ger­ta Stern aufgeschrieben. Was heisst da aufgeschrieben? Sie hat, zusam­men mit ihrer entzück­enden Pro­tag­o­nistin, Poe­sie und Fak­ten lebendig gemacht. Anne Siegel gelingt etwas, das ich sehr bewun­dere: Sie baut in die Lebens­geschicht­en von ungewöhn­lichen Men­schen die Fak­ten so klug ein, dass man eigentlich ein Geschichts­buch liest, ohne dies zu merken.

Als Tochter ein­er der bekan­ntesten jüdis­chen Fam­i­lien Öster­re­ichs wird Ger­ta Stein geboren und avanciert zum «It-Girl» (Anne Siegel) im Wien der 1920er- und 30er-Jahre. Durch die Heirat Ger­tas mit dem ersten Profi­fuss­baller der dama­li­gen Zeit, Moses Stern, sind die «Beck­hams Öster­re­ichs» auf dem besten Weg. Jung, schön und erfol­gre­ich scheint ihr Glück vorgeze­ich­net, wären da nicht der Hass, Neid und das Spiesser­tum der Nach­barn, deren Anti­semitismus in Wien früher und stärk­er als in Berlin spür­bar wird (auch dies eine Erken­nt­nis des Romans). Die öster­re­ichis­chen Klein­bürg­er sind sehr bürokratisch, sehr akademisch und sehr stark in ihren Aktio­nen, die das Leben der jüdis­chen und der demokratis­chen Men­schen regel­recht zur Hölle machen. Deshalb beschliesst das junge Paar, Öster­re­ich zu ver­lassen. In Ham­burg warten sie verzweifelt auf das Ein­tr­e­f­fen ihrer Visa nach Südafri­ka, da wird Moses ver­haftet und in ein Konzen­tra­tionslager ver­schleppt. Todesmutig marschiert Ger­ta ins Gestapo-Haup­tquarti­er. Zu allem entschlossen, set­zt sie ein, was ihr ihr Leben lang bleiben wird: ihr Schaus­pieltal­ent! Was anschliessend passiert, will ich Ihrer eige­nen Lek­türe über­lassen. Einzig das Hap­py End kann ich Ihnen ver­rat­en: Heute ist «Seño­ra Ger­ta», wie sie in Pana­ma City ehrfürchtig genan­nt wird, die wohl quick­lebendig­ste Ü‑100-Jährige der Welt.

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Vorder­gründig erzählt «Seño­ra Ger­ta» die Aben­teuer ein­er Wiener Jüdin und deren gefährlich­er Flucht via Ham­burg nach Pana­ma. Gle­ichzeit­ig ist «Seño­ra Ger­ta» ein Lehrstück über Mut, Hoff­nung, Men­schlichkeit und über unsere Gegen­wart. Dank dem his­torischen Detail­re­ich­tum von Anne Siegel wer­den die Bezüge von damals zu heute sehr offen­sichtlich. Denn im Buch «Seño­ra Ger­ta» reden nicht nur die Geschichte, die klas­sis­chen Frauen­rollen und die Frei­heit jedes Men­schen zu uns, son­dern auch die erschreck­ende poli­tis­che Aktu­al­ität unser­er Zeit. «Seño­ra Ger­ta» verkör­pert das 20. Jahrhun­dert, ist Vor­bild für ein selb­st­bes­timmtes Frauen­leben und erzählt uns von ein­er Kraft, die ger­ade in diesen schw­eren Zeit­en dazu aufruft, weit­erzu­machen.

Ich hat­te das Glück, die Autorin Anne Siegel erst vor weni­gen Wochen in Köln per­sön­lich zu tre­f­fen. Dabei ent­deck­te ich, was ich schon in den Zeilen der unglaublichen Lebens­geschichte der 100-jähri­gen Ger­ta Stein ver­mutete: Da treten eine Autorin und ihre Heldin in mein Leben und wer­den es nicht mehr ver­lassen!

Lesen Sie rein ins Buch, hören Sie die ver­schiede­nen Sendun­gen dazu, und ja: Organ­isieren Sie Lesun­gen mit Anne Siegel in der Schweiz! Denn etwas macht den Roman, der nur zu Beginn auf den ersten 20 Seit­en etwas arg nüchtern und schlep­pend daherkommt, einen dann jedoch sofort mitzureis­sen ver­mag, ganz speziell: die wahre Geschichte, die authen­tis­chen Pro­tag­o­nistin­nen und allen voran die Autorin, die es schafft, nicht nur ein Buch, son­dern ganze Säle zu füllen. «Seño­ra Ger­ta» verkauft sich in der Schweiz zwar sehr gut – in Deutsch­land ist der Roman auf der «Spiegel»-Bestsellerliste – doch Lesun­gen gab es für Anne Siegel in der Schweiz noch keine. Dies sagt sehr viel aus über einen durch und durch männlich geprägten Buch- und Kul­turbe­trieb (mit vie­len Frauen als Mit­tä­terin­nen) im kleinen, reichen Land inmit­ten Europas, das ger­ade Sach­buchau­torin­nen unfass­bar sträflich ver­nach­läs­sigt.

PS: «Seño­ra Ger­ta» wird eine Fort­set­zung kriegen: Film, Doku und die Ent­deck­ung ihres dama­li­gen, anonym bleiben­den Helfers fol­gen – bleiben Sie also dran.

Anne Siegel
Seño­ra Ger­ta — Wie eine Wiener Jüdin auf der Flucht nach Pana­ma die Nazis aus­trick­ste
Ver­lag: Europa Ver­lag
ISBN 978–3- 95890–051‑6

Artikel online veröffentlicht: 15. Mai 2017