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Service (au?) public

Von Peter J. Betts - Wer sich mit Wesen und Auf­gaben von «Ser­vice (au) Pub­lic» auseinan­der­set­zen will, täte gut daran, sich zuerst ein paar Gedanken über «die Öffentlichkeit» zu machen. Daraus lassen sich vielle­icht einige Vorstel­lun­gen über den Dienst an ihr entwick­eln.

Inhaltlich lässt sich «die Öffentlichkeit» nicht definieren. Die meis­ten Men­schen kann man — grob einzel­nen «Typen» zuord­nen; und natür­lich hat ein Typus sehr oft Merk­male von anderen, was das Typ­isieren nicht ein­fach­er macht (so gibt es beispiel­sweise sich­er kämpferische Frauen, die zugle­ich feige sind, berech­nend und liebenswürdig, gar gütig und an ein­er Pro­fil­ierungsneu­rose lei­den) oder sie gehören in bes­timmten Lebens­bere­ichen klar in eine Kat­e­gorie und in anderen eben­so klar in eine andere (So lassen sich etwa geniale Idioten erk­lären oder KZ-Auf­se­her, von denen einige im Pri­vatleben kinder­liebend, für­sor­glich und zärtlich gewe­sen sein sollen.). Die Öffentlichkeit beste­ht also zum Beispiel aus Frauen, Kindern, Män­nern, Despotin­nen, Intri­g­an­ten, Heili­gen, Ver­brecherin­nen, Geizigen, Feigen, Güti­gen, Gang­stern, Erfol­gre­ichen, Machos, Gescheit­erten, Gel­dund Macht­gieri­gen, Hil­fs­bere­it­en, Stumpfen, Prag­matik­erIn­nen Inter­essierten, Phan­tasievollen, Grosszügi­gen, Ein­fühlsamen, Egozen­trischen, Ini­tia­tiv­en, Teil­nahm­slosen, Teil­nehmenden, Grausamen, Prof­i­tieren­den, Mitschwim­menden, Karriere‑, Profilierungs‑, Stre­itund Genussüchti­gen, Worka­holics, Idi­otIn­nen, Genies, Mit-den-Wölfen-Heulen­den, Durch­schnit­tlichen… Durch­schnit­tlichen? Nein, dieser sta­tis­tis­che Begriff hat hier nichts zu suchen. Durch­schnit­tliche gibt es nicht. Das soge­nan­nte Pub­likum, die soge­nan­nte Öffentlichkeit beste­ht, so kon­di­tion­iert und manip­ulier­bar die einzel­nen oder «Grup­pen» vie­len erscheinen mögen (oder so gerne viele sie so sehen möcht­en), aus lauter Indi­viduen unter­schiedlich­ster Art, mit unter­schiedlich­sten Biogra­phien und unter­schiedlich­sten Werthal­tun­gen, auch wenn viele in ihrem Ver­hal­ten, AUF DEN ERSTEN BLICK BETRACHTET, einan­der zu ähneln scheinen, so dass Ord­nungsliebende gerne Kat­e­gorien bilden, damit diese Grup­pen zum Beispiel für Wer­berin­nen und Wer­ber, Pro­gram­mver­ant­wortliche, Redak­tion­steams und so weit­er leichter auswert‑, nutz‑, manip­ulier­bar «wer­den». Auch wenn sie in Massen tat­säch­lich nivellier‑, ver­führund aus­beut­bar sind. Diese Möglichkeit zu nutzen, auch wenn es recht ein­fach und deshalb erfol­gver­sprechend (und lohnend?) ist, hat aber mit Ser­vice nicht das ger­ing­ste zu tun und nichts mit Ser­vice au Pub­lic.

Daraus kön­nte für den Dienst an der Öffentlichkeit eine ober­ste Ein­sicht abgeleit­et wer­den: Die Öffentlichkeit «als Ziel­gruppe» beste­ht für den Ser­vice au Pub­lic NICHT aus ein­er Herde von Kon­sumentin­nen und Kon­sumenten, son­dern aus Indi­viduen, aus Bürg­erin­nen und Bürg­ern ver­schieden­ster Nation­al­itäten und Altersstufen, mit ver­schieden­sten Werthal­tun­gen, Hoff­nun­gen und Bedürfnis­sen. Diesen Indi­viduen ist mit Respekt, Achtung, Beschei­den­heit und Weisheit zu begeg­nen — im Rah­men des Möglichen. Allen kann man nie in allen Teilen gle­ichzeit­ig gerecht wer­den. Alle haben aber uneingeschränk­ten Anspruch auf das Bemühen um Gerechtigkeit durch den Öffentlichen Dienst. Eine Auf­gaben­stel­lung, die uner­füll­bar ist, aber zu allen Zeit­en rel­e­vant, und für die es mit Sicher­heit keine Kochbuchrezepte gibt: keine Frage sta­tis­tis­ch­er Quoten, son­dern und jed­erzeit eine Frage glaub­würdi­ger Inhalte. Und: wie liesse sich ein allfäl­liger Erfolg messen oder bew­erten — in Geld umset­zen?

Inter­mez­zo: Zeit ist Geld… Zeit ist knapp. Kürzel haben Hochkon­junk­tur. Hochkon­junk­tur ist Wach­s­tum. Wach­s­tum ist Gebot. Gebote sind heilig. Haupt­sätze sind Instantsätze. No non­sense! Beispiele gefäl­lig?

«Learn­ing by doing» wird für alle Lebensla­gen als Ver­hal­tensnorm propagiert. Munter­er Aktivis­mus bricht pan­demiear­tig aus. Man ori­en­tiert sich am Markt. Frisch-fröh­lich wird pro­duziert. Nicht vor allem Stüh­le, Fahrräder oder son­st etwas allen­falls Brauch­bares. Man ist eine Dien­stleis­tungs­ge­sellschaft. Pro­duziert wer­den For­mu­la­re, Tabellen, Sta­tis­tiken, Grafiken, Umfra­gen, Kon­trol­lund Überwachung­spro­gramme, Wer­bekam­pag­nen, Events etc.; und jedes dieser Pro­duk­te ver­mehrt sich ras­ant von selb­st, löst wiederum emsige Aktiv­ität aus, wird, kaum pro­duziert, vergessen; was es aus­gelöst hat, ver­läuft im Sand. Der Berg von Pro­duziertem wächst und wächst. Und um die Mark­to­ri­en­tierung nicht zu ver­lieren, pro­duziert man gezielt das Bedürf­nis nach den her­aus­ge­spi­enen Pro­duk­ten. Und Wach­s­tum ist DAS Gebot. Man ist rund um die Uhr eifrig beschäftigt. Man ist learn­ing by doing. Das Tun an sich ist DER Wert, da es in Zeit gemessen wird, also Geld. Und selb­st wenn man Stüh­le pro­duzierte oder Fahrräder, würde sich nie­mand fra­gen, ob sich jemand darauf zu set­zen begehrt, falls nicht die Wer­bung ein neues Aktiv­itäts­feld ent­deck­te, ger­ade hier das Bedürf­nis nach sta­tionären oder beweglichen Sitzgele­gen­heit­en ver­mehrt zu weck­en. Allerd­ings das Kürzel, von dem wir aus­ge­gan­gen sind, ist einem völ­lig anderen Kon­text ent­nom­men. Die ursprüngliche Auf­forderung lautete: «Learn­ing BY THINKING ABOUT what one is doing!» Aus­gerech­net DAS tut bei aller Tätigkeits­begeis­terung kein Men­sch: über das, was man getan hat, zu tun im Begriffe ist, tun sollte, NACHDENKEN! Denken ist zwar ein Verb, aber kein Pro­dukt. Denken ver­schlingt Zeit, also Geld. Und das Geld ist für das Pro­duzieren reserviert. Nie­mand kann sich leis­ten, jeman­den fürs Denken anzustellen.

Ein anderes Kürzel? Bitte sehr! Eine Auf­schrift auf einem Liefer­wa­gen als Reklame mit Angaben zur Web­site: «Biokill». Ein Wider­spruch in sich? Blanker Zynis­mus? Gedanken­losigkeit? Ein genialer Wer­bee­in­fall? Übri­gens: In einem Artikel in der «Welt­woche» ver­tritt ein ehe­ma­liger Funk­tionär von Green­peace die Überzeu­gung, Atom­kraftwerke seien im Inter­esse des Umweltschutzes zu bauen. Biokill — doch eine visionäre Wahrheit? Übri­gens: ein Wer­be­text mit dem Ziel, für MSN Mes­sen­ger zu begeis­tern: «schreiben, sehen, hören wie im echt­en Leben». Bio-Live? Aber reduziert auf das binäre Herzstück der virtuellen Real­ität?

Man spielt nicht mit Para­doxa — nie­mand will sich den Zeitaufwand leis­ten kön­nen, der nötig wäre, all die bere­its ins all­ge­meine Gedankengut einge­gan­genen gedanklichen Kurz­schlüsse zu beheben. Zeit ist Geld, ergo Biokill. Inhaltliche Wider­sprüche sind Klänge wie andere auch. Denken? Keine Zeit! Und ger­ade im Ser­vice Pub­lic ist Zeit rar.

Die Quad­ratur des Kreis­es… Der Ser­vice au Pub­lic ist nicht nur der Dienst an der Öffentlichkeit, son­dern er ist auch ein öffentlich­er Dienst. Der Öffentlichkeit gegenüber muss Rechen­schaft abgelegt wer­den kön­nen, dass der Ser­vice au Pub­lic erfol­gre­ich geleis­tet, dass keine Zeit, sprich kein (öffentlich­es) Geld ver­schwen­det wird. Dies geschieht höchst glaub­würdig mit Doku­men­ta­tio­nen von über­füll­ten Ter­minkalen­dern; mit Präsen­zkon­trollen, Sta­tis­tiken zu getätigten Sitzun­gen und behan­del­ten Trak­tanden sowie bear­beit­eten Dossiers; mit Auflagez­if­fern und Ein­schaltquoten, zum Beispiel, um die Mark­to­ri­en­tierung zu doku­men­tieren; mit stoisch zur Schau getra­ge­nen Zeichen kör­per­lich­er Über­mü­dung, salon­fähig gewor­de­nen motorischen Störun­gen und Konzen­tra­tionslück­en als Gradmess­er für Bedeu­tung und Ein­satz der jew­eili­gen Funk­tionärin­nen oder Funk­tionäre; mit Fluk­tu­a­tio­nen bei der Belegschaft der unteren und mit­tleren Ränge und beim ober­sten Kad­er mit ihrer Jagd nach neuen Her­au­forderun­gen, falls mehr Pres­tige lockt oder die gegen­wär­tige Posi­tion ver­ant­wortlich­es Han­deln, beispiel­sweise Kon­ti­nu­ität, erfordern würde. Beweglichkeit ist essen­tiell. Und — je nach per­sön­lichem Vorteil Behar­rlichkeit. Und da schwafelt ein­er davon, die Öffentlichkeit beste­he aus ein­er unüberblick­baren Menge von Indi­vid­u­al­istin­nen und Indi­vid­u­al­is­ten, die, jede und jed­er, jed­erzeit «Anspruch auf das Bemühen um Gerechtigkeit durch den Öffentlichen Dienst» hät­ten? Quatsch: die oben ange­führte , keineswegs voll­ständi­ge Liste von Meth­o­d­en belegt hin­länglich, dass Effizienz, Exis­tenzberech­ti­gung und Erfolg der Öffentlichen Dien­ste voll und ganz unter Auss­chluss dieser Öffentlichkeit als ein­er allfäl­lig betrof­fe­nen Bio­masse belegt wer­den kön­nen, und zwar dur­chaus inner­halb der öffentlich zugänglichen Prak­tiken, wie den oft sehr kri­tis­chen Medi­en­bericht­en über alle Bere­iche des Ser­vice Pub­lic zu ent­nehmen ist. Unsterbliche Architek­tur ist eben­so wenig auf die Men­schen angewiesen, die darin zum Wohnen und Arbeit­en gezwun­gen wer­den. Im Gegen­teil, die Mon­u­mente der Architek­tur wären viel ein­drück­lich­er ohne die Men­schen und ihre Bedürfnisse, wie der Ser­vice Pub­lic auch. Oder?

Ein prag­ma­tis­ch­er Vorschlag, nicht ganz abseits der Real­ität… Es gibt keine Erfol­gsrezepte. Das Dilem­ma ist nicht ein für alle­mal lös­bar. Die Quad­ratur des Kreis­es ist nicht möglich.

Und wenn sich jede Per­son an jedem Posten verpflichtete, an jedem Arbeit­stag eine halbe Stunde lang nachzu­denken, meinetwe­gen zu medi­tieren, was sie getan hat, was sie zu tun gedenkt, und was sie tun sollte und für wen oder was und auch wie? Und in ganz hek­tis­chen Zeit­en kön­nte es dann eine ganze Stunde sein.

Dies, ohne dass die Arbeit­szeit dadurch länger würde. Und in dieser hal­ben oder in schwieri­gen Zeit­en ganzen Stunde gibt es keine Erre­ich­barkeit, keine Störun­gen von aussen. Keine.

Gut, das Ergeb­nis dieser Aktiv­ität lässt sich nicht mit den oben umschriebe­nen Meth­o­d­en messen. Aber mit der Zeit? Und Zeit ist ja Geld. Und in der Real­ität? Es gibt ja nicht nur die virtuelle Welt. Ein Ver­such wert? Über län­gere Zeit?

Pars pro toto… Für den Ser­vice Pub­lic im Kom­mu­nika­tions­bere­ich kön­nte es etwa heis­sen, dass nicht Ein­schaltquoten und Auflagez­if­fern allein als Erfol­gs­massstäbe ange­set­zt wer­den, son­dern, mehr als gele­gentlich, eben Inhalte.

Das bedeutet nicht, dass man non­stop moral­isierend Wis­sen ver­mit­telt; das bedeutet keinen ver­snobten Verzicht auf Unter­hal­tung; das bedeutet nicht: Alles ein­fach anders! Es bedarf wed­er des schul­meis­ter­lichen Dro­hfin­gers in Per­ma­nenz noch der Frère-et-cochon-Haltung als Marken­ze­ichen. Aber es bedarf, wo und wann auch immer, der Authen­tiz­ität. Es braucht — nach jew­eils rei­flich­er Über­legung — das richtige Pro­dukt, das man als Pro­duzentIn auch auf jed­er Hier­ar­chi­estufe per­sön­lich ver­ant­wortet.

Sich am Markt ori­en­tieren, heisst aber nicht, via prim­i­tivster Mark­t­forschung ein Bedürf­nis schaf­fen und das dann, mit Massen­pro­duk­tion über einen Leist geschla­gen, befriedi­gen. Es bedeutet, dass man dif­feren­ziert, heute — vielle­icht! nicht reagiert wie gestern und mor­gen — vielle­icht! nicht wie heute. Es geht nicht um pro­fes­sionelle Orig­i­nal­ität. Nicht um Mark­tschreierei. Nicht um Sen­sa­tion­slust oder Sen­sa­tions­frust. Nicht um inhalt­sleeren Wieder­erken­nungswert. Nicht um Novität um jeden Preis. Es geht um Glaub­würdigkeit. Es geht für die Medi­en­schaf­fend­en darum, dass Män­ner — beim Rasieren — und Frauen beim Schminken oder Abschminken — vor oder nach einem Arbeit­stag sich sel­ber anerken­nend im Spiegel begeg­nen kön­nen, ohne Brechreiz wegen des in ihrer Ver­ant­wor­tung Voll­bracht­en oder des noch zu Voll­brin­gen­den. Und das richtige «Wie» erfährt man wohl am ehesten durch Reflex­ion: Learn­ing to think about what one is doing? Warum denn eigentlich nicht?

Bild: © Alexan­der Egger
ensuite, August 2006