Von Regula Staempfli - In diesen Tagen – träge, sonnig und sehr schwül – verstand ich mit einmal, was für mich Heimat bedeutet. Keine Wolken am Himmel, die über München oft nach Schweinegrill riechen, lässig-elegant gekleidete Männer, die so verwirrend viel schöner aussehen, als Menschen, die in schwarz-monetären Nullgesellschaften aufgewachsen sind, jemals aussehen können. Es war mir, als ob jeder Tag Sonntag wäre. Vergessen die wächsernen schweizerisch und deutsch sprechenden Puppen, die ihr mit Nervengift geglättetes Gehirn mit nichts ausser mit ihrem Stoffwechsel beschäftigen.
Ich sass in Lyon im Café um die Ecke und ich wusste: Ich würde keinen Tag in einem fensterlosen Raum überleben. Dies nach meinem Besuch in dieser Stadt, im Gefängnis Montluc. Ein Schreckensort, der sehr klug, weitsichtig, nachhaltig, demokratisch von Vera und Ruedi Baur für eine grössere Öffentlichkeit gestaltet wurde. Montluc steht für Hälse mit Doppelkinn, die, zum Beweis ihrer Lebendigkeit, Gefangene in der Badewanne mit Wasser foltern. Montluc ist diese stumme Gewalt, die überall versucht, uns lebende Zeitgenossen in Monster zu verwandeln (und es mittlerweile bei vielen auch schafft). Montluc ist ein Ort der Erinnerung mit vielen Besuchern täglich und einem sehr inspirierenden Kuratoren- und Museums-Team. Das Gefängnis soll daran erinnern, dass Menschlichkeit überlebt – selbst wenn die Mächtigen immer wieder versuchen, selbst die Erinnerung daran im Keim zu ersticken.
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An diesem Ort, der keine billigen Durchschnittsschatten erträgt, ist alles von Bedeutung. Erstarrte Ehrfurcht vor dem doppelten Schweigen angesichts der Folter und des Todes weicht der Zeit, die sich nicht mehr in Taschenuhren misst. Der Hauch des Eingesperrten und Verzweifelten schleicht sich immer noch durch die Gänge, doch die auf Gelb geholzten 1500 Fragen der Ausstellung von Vera und Ruedi Baur weben hoffnungsvolle Ernsthaftigkeit in die Geschichte. Auf dem Gelände der Geschichte wird Poesie so möglich.
Ich hatte deshalb das Glück, Marie Rameau zu treffen, Autorin des Buches SOUVENIRS. Die Buchdeckel beherbergen selber eine Ausstellung: Zeugnisse und den Weg von unerschrockenen, willensstarken Menschen. Widerständige, die von Montluc nach Ravensbrück, Mauthausen, Auschwitz oder Bergen-Belsen transportiert wurden. Geschoren, um jedes Zeichen der Mitmenschlichkeit vergessen zu lassen, in Kleider gesteckt: falsche Grössen, beissende Stoffe, nur dem Zwecke dienend, den Menschen bis unter die Haut zu entblössen. Den Mächtigen dieser Welt gelingt es wieder und wieder mittels Gewalt alles Leben in eingebrannten Zahlen wegzurationalisieren.
Marie Rameau sichert durch die Erzählungen in SOUVENIRS die Geschichten für alle Kometenzeit. Sie berichtet von den unglaublichen Frauen, die als Jugendliche dem Bösen die Stirn boten, die sich eine Humanität bewahrten mit Liedern, Gedichten, selbstgenähten Büstenhaltern, Spielzeugen. Wer hier Chronistin ist, weiss um Nächte der Verzweiflung, die sich in das friedliche zeitgenössische Leben einschleichen. «Ein Teil von mir ist in den Lagern geblieben», stellt Ruth Klüger mit der ihr eigenen bitteren Nüchternheit fest in einem sehr deutschen Gespräch, das so einen ganz anderen Ton anschlägt als das Gespräch mit Denise Vernay (gefolterte Résistence-Kämpferin, inhaftiert in Montluc, Deportation in deutsche KZ) in Marie Rameaus Buch. Die Französinnen hassen sich nicht selber, so, wie wir es von deutschen Frauenberichten kennen, die sich deshalb auch als die effizientesten Mittäterinnen jeder Systeme entpuppen. Doch selbst Klüger berichtet von der Rettung durch Poesie: Ohne Gedichte wäre sie verendet, nur das Nachdenken über die nächste Zeile vermochte – für eine kleine Weile wenigstens – vom grauenhaften Schmerz in Seele und Körper abzulenken. Klüger verflucht die Hoffnung, die feige mache. Die Frauen in Rameaus Buch sahen darin den Willen, weiterzuleben.
SOUVENIRS ist ein grossartiges Buch. Es zeugt von jener Kraft, die in der Poesie wahrhafter Menschen steckt. Die Fotografien zeigen schwere Zöpfe, jungen Augen und Charisma weit über die 20 Jahre hinaus. Die Frauen sind unglaublich schön: Als 20-Jährige und als 80-Jährige – solche Frauen sieht man in den Medien heute nirgendwo. Es sind Frauen, die von bösen, dünndoofgesellschaftlich angepassten hässlichen Frauen und Männern aus der Geschichte verbannt werden. Es sind Menschen, die mit lächerlichen, hippen, postvielfältigen Zuweisungen, Attributen, korrekt-totalitären Formen – gemacht von Zeitgenossinnen, die ihr Leben mit Kalorienzählen verschwenden – aus der Erinnerung weg-
erzählt werden sollen.
SOUVENIRS ist ein Wandkalender der herausragenden Art. Einer, der in alle Ausstellungen und Museen gehört, die sich nicht der Darstellung, sondern der Erzählung widmen, kurz die echten Museen und nicht die Konsumtempel, die derzeit durch Influencer bis zur Schreigrenze banalisiert werden.
Das Buch gibt es noch nicht auf Deutsch – doch die Abbildungen darin verlangen eh nicht nach grossen Worten, denn sie gehen direkt ins Herz.
Lasst uns gemeinsam Gedichte lesen. Wer weiss, wann wir sie als Überlebenshilfe brauchen. Marie Rameau hat einige davon aufgeschrieben.
Marie Rameau: SOUVENIRS, Éditions La ville brûle, 2015