Von Helen Lagger - Abtreibungsgegner, verarmte Kinder in Halloween-Kostümen, Ku Klux ClanMitglieder, Fettsüchtige, Baby Contest-Gewinner und Obdachlose. Sie alle begegnen uns auf Mary Ellen Marks Foto-Odyssee durch die verrückt-faszinierende USA. Anything goes! Das Photoforum PasquArt zeigt zurzeit in einer Schweizer Premiere Fotos einer der herausragendsten Persönlichkeiten der sozial-dokumentarischen Fotografie. Die Ausstellung „American Odyssey“ zeigt die dreissig vergangenen Schaffensjahre der Künstlerin Mary Ellen Marks.
Ihre Schwarz-Weiss Fotos sind unverblümt und fangen die Menschlichkeit und Leidenschaft der Superreichen, wie auch der Ärmsten ein. Oft unterhält die Künstlerin engen Kontakt mit ihren Models und dokumentiert so über Jahre ganze Schicksale. Marks Bilder zeichnen sich durch eine Intimität aus, die mit dem blossen Dokumentieren aussergewöhnlicher Ereignisse nichts zu tun haben. Zwar wurzeln ihre Aufnahmen, wie andere Dokumentarbilder, in der Realität und zeigen häufig das menschliche Gesicht hinter dem sozialen Problem.
Ganz undokumentarisch mutet allerdings das Traumhafte, Geheimnisvolle und Symbolische, das sie in ihre Fotos mit einbringt, an. Ihre Bilder sind Metaphern menschlicher Existenz und drücken die ganze Palette emotionaler Zustände aus, sei es nun im Porträt eines hasserfüllten Rechtsextremen oder im Gesicht einer bis zur Groteske aufgemachten Dame, die in Miami ihren Gigolo besucht. „In meinem Werk lasse ich mich führen von dem was mich bewegt und überrascht. Fotografie kann enigmatisch sein. Manchmal funktioniert sie wegen dem, was sich im Rahmen befindet und manchmal genau deshalb, weil etwas nicht abgebildet wurde. Es ist ein mysteriöser Prozess“, erklärt die Künstlerin ihre Schaffensweise.
Eine besondere Faszination hat Marks für Masken und Kostüme. Das uramerikanische Fest Halloween spielt dabei oft eine Rolle. Ein kleiner Junge im Vampirkostüm steht in einer desolaten Landschaft irgendwo tief in der Provinz. Seine furchterregenden Vampirzähne wollen so gar nicht zu seinem verunsicherten Blick passen. Marks fängt die Emotion hinter der Maske ein.
Ein wunderbares Bild ist auch das Porträt des Santa Klaus in New York. In einem Restaurant sitzend, den künstlichen Bart heruntergeklappt, raucht er genussvoll eine Zigarette, wie es sich für einen Weihnachtsmann wohl kaum gehört und hält mit der Hand die Glocke so umschlossen, als möchte er damit den Kellner herbeiklingeln. Hier kommt zum Vorschein, dass Marks Bilder durchaus Humor enthalten können. Das Maskieren findet auch subtiler statt. In einem Bild, das sie auf einem Campingplatz in Kentucky aufgenommen hat, präsentieren sich zwei Kinder. Das Mädchen hebt sein weisses Kleid und versteckt sein Gesicht vor der Kamera. Der Junge wiederholt ihre Geste, so dass die beiden wie eine Parodie eines bizarren Brautpaares wirken. Ein weiteres grosses Thema von Marks: Kinder, die Erwachsene nachahmen. Einmal hatte sie eine Serie über gewalttätige Kinder fotografiert und wollte gerade gehen, als das höchstens achtjährige Kind eine Zigarette hervorholte und zu rauchen begann. Die Mutter war dabei und hatte nichts dagegen. Das Foto, das dabei entstanden ist, irritiert: In einem aufblasbaren Kinderpool sitzt ein stark übergewichtiges Kind und schaut verdutzt in die Kamera. Das zweite Mädchen drängt sich in provokanter Pose in den Vordergrund und bläst dem Betrachter mit einem überheblich-lasziven Gesichtsausdruck den Rauch mitten ins Gesicht.
Randgruppen, seien es nun Rechtsextreme oder Obdachlose hat Marks oft ganze Serien gewidmet. Sie hat beispielsweise die Ku Klux Klan-Mitglieder in Idaho fotografiert. Erschreckend, wie normal die Leute hinter ihren Kappen aussehen. Drei biedere Hausfrauen mit den spitzen Hüten fotografiert, wirken auf den ersten Blick wie drei lustige Hexen aus einer Theateraufführung. Aber diese Maskerade ist bitterer Ernst. Ein „weisser Patriot“ schläft friedlich mit seinem ebenfalls schlafenden Baby im Arm. Ein Moment der Selbstvergessenheit, der dem Rassisten seine Menschlichkeit zurückzugeben scheint.
Marks hat auch Lieblingsmodelle. So zum Beispiel Erin Blackwell, genannt Tiny. Die Künstlerin hat Tiny in Seattle kennengelernt und fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Das Mädchen war dreizehn Jahre alt und arbeitete als Prostituierte. „Manche Menschen sind erstaunlich und können sich vor der Kamera völlig vergessen. Tiny gehörte zu diesen Menschen und das ist bis heute so geblieben“, kommentiert Marks diese Vorliebe. Im Laufe der Jahre fuhr sie immer wieder nach Seattle um Tiny zu fotografieren. So ist eine ganze Serie entstanden: Tiny im Halloweenkostüm, Tiny schwanger, Tiny streitend und weinend.
Ebenfalls über längere Zeit begleitet hat sie die Familie Damm aus Los Angeles. Diese lebt abwechselnd in ihrem Wagen und einem Obdachlosenheim. Ihr Leben ist von Gewalt und Drogen geprägt. Die Kinder strahlen den Kummer am meisten aus. Einmal sieht man die Familie im Bett liegen. Die Eltern schlafen tief, das Kind hingegen blickt desillusioniert in die Leere. Auf dem Nachttisch steht der Teil einer Pfeife, eine Madonnenfigur, eine Pepsiflasche und überall Schmutz. „Ich fotografiere diese Randfiguren nicht aus Mitleid, sondern weil sie Menschlichkeit ausstrahlen“, erklärt Marks. „Ich will denen eine Stimme geben, die selten für sich selbst sprechen können“.
Bild: Mary Ellen Mark, zVg.
ensuite, November 2003