Von Patrick Etschmayer - Die Abstimmungsauftritte von türkischen Regierungsmitgliedern im Vorfeld des ‘macht Erdogan zum Führer’-Plebiszits grenzen an das Erträgliche oder gehen sogar darüber hinaus, was in einer Demokratie auszuhalten ist. Das Bestreben solchen Propaganda-Veranstaltungen den Riegel zu schieben, ist deshalb auch nachvollziehbar und — wenn Bedenken wegen der Sicherheit glaubhaft sind — sogar unerlässlich. Allerdings muss man sich fragen, wie Klug solche Verbote aus einer strategischen Perspektive sind.
Im grossen Geschäft mit dem Metzeln, auch Krieg genannt, gibt es zweierlei Talente, welche von Führungskräften gefordert sind und über das reine Töten und Vernichten hinausgehen: Taktik und Strategie. Die Übergänge können fliessend sein, aber im Grossen und Ganzen lässt sich sagen: Taktik kommt jeweils in einzelnen Kampfhandlungen zum Einsatz, Strategie hingegen erfasst das grosse Bild, sieht über den Kampf des Tages hinaus. So würde sich ein Taktiker, wenn sich ein Sieg bietet, zum Beispiel niemals zurückziehen und alles daran setzen, den Gegner zu schlagen und eine neue Stellung zu erobern. Deshalb werten solche Taktiker es auch als Ungeheuerlichkeit, ja als Verrat, wenn trotzdem ein Rückzug befohlen wird. Zum Beispiel, weil es unverhältnismässig viele Ressourcen binden würde, die betreffende Stellung zu halten und dem Feind so im weiteren Verlauf des Konflikts Vorteile, die allenfalls sogar entscheidend sein könnten, verschaffen könnten. Der Ausdruck Pyrrhussieg ist nicht von ungefähr ein fester Bestandteil, nicht nur des militärischen, sondern des generellen Vokabulars geworden.
Ein Taktiker im Militär weiss, wie er die Kräfte im Bataillon am besten einsetzt, wo er angreifen muss, um einen Vorteil zu erringen und hoffentlich, wie er ein Gefecht mit den kleinstmöglichen Verlusten gewinnt. Ein Stratege muss dagegen wissen, wie der Krieg gewonnen werden kann. Nicht die einzelnen Schritte, sondern das Ziel zählen. Mitunter dumm, dass ein taktisches Stolpern das strategische Ziel in unerreichbare Ferne rücken kann.
Aber was hat das mit Erdogan und seinem Reichsermächtigungsgesetz à la Turkye zu tun? Erdogan geht es um die fast grenzenlose Machtsicherung. Es wird dabei von Pro-Erdogan-Seite argumentiert, dass es um ein System wie in den USA geht. Doch es fehlen starke institutionelle Gegengewichte, so dass es auf dem Papier vielleicht nach einem demokratischen Präsidialsystem aussieht, in Tat und Wahrheit aber der Etablierung einer Quasi-Diktatur gleich kommt. Zudem addiert er dazu noch mögliche zehn Jahre zu seiner Amtsszeit.
Erdogan spielt also definitiv ein Spiel mit langem Zeithorizont, ist aber doch in Eile, will er doch sein Plebiszit sichern. Ihm kommt dabei zu gut, dass er ein Spezialist darin ist, einen Feind von aussen zu schaffen um potentielle Anhänger hinter sich zu scharen. Dabei ist es völlig egal, ob dieser Feind wirklich bedrohlich oder nur ein künstlich aufgeblasener Popanz ist. Hauptsache gegen die Türkei, bzw. gegen Erdogan und die AKP, denn diese sind in seinem Weltbild ja kongruent.
Wenn jemand in Europa glaubt, Erdogan werde aus Vernunft irgendwann die Bremse ziehen, soll einfach an 2015 zurück denken, als er den Frieden mit den Kurden opferte, um den zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen zu gewinnen. Bei der ganzen Sache ist natürlich gar nicht hilfreich, dass sich nicht nur Erdogan, sondern fast ganz Europa in einem Wahlkampf befindet. Und machen wir uns nichts vor: Selbst bei uns ist ein konkret empfundener Feind wesentlich attraktiver als jedes abstrakte Problem, um im politischen Diskurs zu punkten.
Die Eskalation des Tons, das schrille, absurde Gebrüll eines faschistoid-völkischen möchtegern-Führerregimes, das andere des Faschismus bezichtigt wäre lustig, wenn es nicht um so viel ginge. Und da in einem populistisch geprägten Wahlkampf auch in Europa vor allem nach Effekt und nicht nach Langzeit-Wirkung gehandelt wird, ist die Stunde der Taktiker gekommen. Dabei gewinnen die Extremisten und somit vor allem Erdogan an Popularität, der die unfreiwillige Wahlkampfhilfe aus Amsterdam, Berlin und Wien mit Freude entgegennimmt.
Da der “Krieg” nicht in Europa gewonnen, wohl aber auch geführt werden kann, zeigt sich jetzt der tragische Mangel an Strategie in der EU, was den importieren Wahlkampf angeht. Statt im letzten Jahr, als sich das Problem materialisierte, fix darauf zu reagieren und ein neutral formuliertes Gesetz zu Wahlkampfveranstaltungen aus dem Nicht-EU-Ausland zu beschliessen, werden jetzt sinn- und ziellose Reflexhandlungen zur Tagesordnung, die Erdogan trefflich Propaganda-Material liefern und den europäischen Politikern erlauben, ihre eigene Stärke vorzuführen.
Es sieht — nicht zuletzt durch die blind erwischten europäischen Politiker — für das Erdogan-Plebiszit besser als je zuvor aus. Dabei hat sich Erdogan — obwohl auch sein Handeln auf den ersten Blick als reine Taktik rüberkommt — als Stratege erwiesen, der seine Propaganda-Kasper losschickt und es schafft, aus verhinderten Auftritten einen grösseren Propaganda-Effekt wie aus abgehaltenen Ansprachen zu erzielen. Dass der Auftritt von Erdogans Aussenminister Cavusoglu in Frankreich nur deshalb bemerkt wurde, weil sich andere europäische Staaten darüber aufregten, dass dieser nicht verboten wurde, zeigt auf erschütternde Weise, wie stark mit Verboten ausgerechnet jener Gratis-Propaganda bekommt, den man zu bekämpfen beabsichtigt.
Ein taktisches Scharmützel zu gewinnen fühlt sich gut an und echt, rein was das Gefühl angeht, würde der Autor auch am liebsten jeden Auftritt von Erdogans Schosshündchen oder gar ihm selbst in Europa verbieten. Doch strategisch ist — man sieht es ja am momentanen Zwist mit Holland — dieses taktieren vor Ort ein Schuss in den Ofen. Der Zug ist nun schon abgefahren und in diesem Kampf hat Europa die zwei auf dem Rücken. Aber vielleicht wäre es gut, sich das vor dem nächsten Mal zu überlegen und daran zu denken, dass Strategie vielleicht nicht so befriedigend aber auf lange Zeit hinaus wesentlich wirksamer ist.