Von Klaus Bonanomi - Seit neustem gibt es in den USA mehr Latinos als Schwarze: Fast 40 Millionen Menschen sind es mittlerweile, die selber aus Mexiko und Mittelamerika eingewandert sind oder von Immigranten abstammen, die den Rio Grande legal oder illegal überquert haben, auf der Suche nach einem besseren Job und etwas Geld, um ihre Familien ernähren zu können.
Und Tish Hinojosa ist ihre Stimme. Was den Schwarzen auf den Baumwollfeldern der Blues war, das sind den Latinos die Songs der Singer-Songwriterin, die 1955 in San Antonio/Texas als dreizehntes Kind mexikanischer Immigranten geboren wurde. Tish Hinojosa besingt in ihren Balladen das Schicksal dieser Einwanderer, gibt den Namenlosen eine Geschichte, ein Gesicht, einen Namen. Joaquín zum Beispiel, den Jungen, den sie in Mexiko trifft und dessen Traum es ist, in die USA auszuwandern: „He learned to speak English from tourists / And reading by kerosene light. He couldn’t afford education / But something was burning inside. He heard things were good in America / And that‘s what had been on his mind. Joaquín loves his homeland / But it can‘t give him enough. He wants a good life, a job, and wife / And some children with dreams that come true.“
Bewusst pflegt Tish Hinojosa ihre Zweisprachigkeit (Tish ist übrigens die englische Abkürzung ihres spanischen Vornamens Leticia): Wer seine eigene Sprache und die des Gastlandes beherrsche, habe mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im Alltagsleben und könne das Beste aus den beiden Kulturen verbinden. Deshalb singt Tish auch spanisch — „Donde voy, donde voy / Esperanza es mi destinación. Solo estoy, solo estoy / Por el monte profugo me voy.“ (Wohin gehe ich? Die Hoffnung ist mein Ziel. Ich bin allein, durch die Wüste flüchte ich…) — oder sie wechselt gar innerhalb eines Songs von Englisch auf Spanisch, wie etwa im Weihnachtslied „Milagro“ auf ihrer aktuellen CD „From Texas for a Christmas Night“: „A miracle on earth came forth from common birth / milagro of hope esperanza, we learn from that navidad“.
Doch nicht nur traurige Balladen, sondern auch fröhliche Polkas und Rancheritas im Tex-Mex-Style hat Tish Hinojosa auf Lager. Aus vielen musikalischen Ingredienzen mixt sie ihre ganz eigene Musik zusammen, und über all dem schwebt ihre glasklare, schöne Stimme. Natürlich haben auch andere Country-Ladies wie etwa Emmylou Harris oder Linda Ronstadt ihren spanischsprachigen Fans die Ehre erwiesen und spanisch gesungen (Linda Ronstadt, Tishs Idol, interpretierte auch ihren Titel „Donde voy“), doch Tish Hinojosa singt aus eigener Erfahrung und mit dem entsprechenden Hintergrund. Und diese Erfahrung lässt Tish nicht nur in ihre Musik einfliessen, sondern auch in ihr politisches und soziales Engagement: Sie setzt sich in einer Organisation für die Rechte und die Bildung lateinamerikanischer Frauen ein, sie singt für den Umweltschutz (etwa mit dem Song „Something in the Rain“, der den Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft anprangert); sie spielte im Weissen Haus den Clintons auf und sammelte Geld zugunsten des (erfolglosen) demokratischen Präsidentschaftskandidaten Dennis Kucinich.
Und sie wirbt dafür, dass sich die Latinos ins Wahlregister eintragen lassen und an den nächsten Präsidentenwahlen im November teilnehmen. Denn für viele in den USA ist klar: Diese Wahl werden die Latinos entscheiden. Vor vier Jahren waren erst 7 Millionen Latinos als Wähler registriert, nun rechnet man mit bis zu 14 Millionen. Freilich: die lateinamerikanischen Immigranten wählen erfahrungsgemäss nicht so stramm demokratisch wie die Schwarzen (in Florida etwa sind die Exil-Kubaner gar eine Bastion der Republikaner… sie waren es denn auch, die die Bush-Wahl mit ermöglichten), obwohl viele von ihnen als Taglöhner in der Landwirtschaft oder als unterbezahlte Putzfrauen ihr Dasein fristen. Kein Wunder, erinnert sich in letzter Zeit auch Präsident Bush daran, dass er gut spanisch spricht…
Aber zurück zur Musik: Tish Hinojosa hat zwar nie einen Grammy gewonnen oder einen Nummer-Eins-Hit gelandet hat, und mit Ausnahme von zwei Alben, die bei Warner erschienen, wurde sie von den Major Labels nicht unterstützt. Dennoch kann sie auf einen treuen Fankreis zählen; und sicher hat sie auch mitgeholfen, den Weg zu ebnen für zwei jüngere Sängerinnen mit mexikanischen Wurzeln, die in jüngster Zeit den internationalen Durchbruch geschafft haben: Lila Downs und Lhasa de Sela. Mit ihrem aktuellen Album „Sandunga“ erweist die im mexikanischen Oaxaca lebende Lila Downs, Tochter einer Mixteken-Indianerin und eines US-Amerikaners, ihrer indigenen Kultur die Reverenz. Und Lhasa singt wunderbare Songs auf spanisch, englisch und auch französisch, da sie, Tochter eines mexikanisch-amerikanischen, mittlerweile in Kanada lebt.
CD-Tipps:
From Texas for a Christmas Night, 2003 (Texas Records);
Sonar del Laberinto, 1997 (Warner);
Homeland, 1989 (A&M)
Lhasa: The Living Road, 2003 (Audiogram)
Lila Downs: Sandunga, 2003 (Narada);
The Border/La Linea, 2001 (Narada)
Bild: Natalie Rhea
ensuite, Mai 2004