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Über den Dächern von Bern

Von Bet­ti­na Hers­berg­er - Sech­sun­dachtzig, siebe­nun­dachtzig, achtun­dachtzig… Die einen zählen laut, andere leise, wieder andere wer­den sich vielle­icht ärg­ern, dass sie nicht rechtzeit­ig mit dem Zählen ange­fan­gen haben. Hun­der­tachtund­sechzig, hun­dert­ne­u­nund­sechzig — wie viele kom­men da noch? 222 Stufen dauert’s, bis man sich die Wen­del­treppe zur ersten Galerie des Bern­er Mün­ster­turms hochgeschraubt hat. Ganz schön atem­ber­aubend — nicht nur der Auf­stieg, auch die Aus­sicht auf das rote Dächer­meer aus 46 Metern Höhe. Dort oben herrscht ein guter Tur­mgeist.

Marie-Therese Lau­per zählt die Stufen nicht. Auch kommt sie schon lange nicht mehr ins Schnaufen beim Auf­stieg zu ihrem Büro auf der ersten Galerie. Der ungewöhn­liche Arbeitsweg ein­er ungewöhn­lichen Frau: Seit dem 1. Sep­tem­ber 2007 ist Marie-Therese Lau­per Mün­ster­wartin von Bern. Nicht die erste Mün­ster­wartin, aber die erste, die nicht im Turm wohnt.

Mehr als fünfhun­dert Jahre Geschichte schreibt der Mün­ster­turm. Beim Rundgang auf der ersten Galerie begeg­net man Zeitzeu­gen des späten 19. Jahrhun­derts an der Tur­m­mauer: Kon­solen­fig­uren von Per­so­n­en, die am Aus­bau des Turms beteiligt waren — vom Präsi­den­ten des Mün­ster­bau­vere­ins bis hin zum Stein­metz. Zusam­men mit diesen her­aus­ra­gen­den Per­sön­lichkeit­en hält Marie-Therese Lau­per Wacht auf dem Turm. Während früher die Turmwächter noch Auss­chau hiel­ten nach Feuerze­ichen — soge­nan­nten Chutzen­feuern -, so betreut die heutige Turmwartin umsichtig die Touris­ten. «Sie sind also die höch­ste Berner­in», spricht ein ein­heimis­ch­er Besuch­er sie schmun­zel­nd an. Auf jeden Fall hat sie die Stadt Bern unter sich und mit gross­er Wahrschein­lichkeit ist sie die «höch­ste» Angestellte der Schweiz­er Haupt­stadt. Die ehe­ma­lige Lehrerin mit St. Galler Dialekt und strahlen­den blauen Augen ist Mün­ster­wartin mit Leib und Seele. Sie spricht min­destens fünf Sprachen und ver­ste­ht es, sich mit den Touris­ten aus aller Welt zu unter­hal­ten. Japanisch würde sie gerne ler­nen. Auf den japanis­chen Reise­plan gehört seit jüng­ster Zeit auch ein Besuch des Bern­er Mün­sters, von dessen Turm aus Eiger, Mönch und Jungfrau zum Greifen nah sind.

Manche Leute erk­lim­men den Turm nur, um sich mit der Mün­ster­wartin zu unter­hal­ten. Sie hat ein offenes Ohr für alle und weiss eine Menge zu erzählen: über Bern, über das Mün­ster, über die Men­schen. Woher sie all ihr Wis­sen nimmt? 25 Jahre lang war sie Stadt­führerin von Bern. «Da kann ich aus dem Vollen schöpfen», sagt sie vergnügt. Ob es sich um die Sub­stanz des Bauw­erks, um Sagen und Mythen oder um tierische Tur­mgäste han­delt, sie weiss auf jede Frage eine Antwort. Gar mit den Engel­hier­ar­chien ken­nt sie sich aus. Kein Wun­der, wenn man so nah am Him­mel arbeit­et. Woher auch immer sie die Inspi­ra­tion nimmt, die Turm­chefin set­zt ihre Ideen um: Sie entwick­elt neue Führun­gen, pro­duziert Prospek­te, zeigt das Mün­ster und seinen Turm immer wieder von ein­er neuen Seite. Die Auf­nah­men für die Postkarten, die im Stän­der zum Kauf bere­it ste­hen, macht sie sel­ber.

Punkt drei Uhr nach­mit­tags hat die Bet­glocke ihren Auftritt. Die mehrere Ton­nen schwere Glocke hängt exzen­trisch in der unteren Glock­en­stube und ver­set­zt mit ihrem Schwin­gen den 100 Meter hohen Mün­ster­turm in ein Ungle­ichgewicht, so dass dieser ins Wanken gerät. Aber eine Mün­ster­wartin ist wind- und wet­ter­fest und garantiert schwindel­frei. So leicht bringt sie nichts aus der Ruhe. Auch nicht an Sil­vester, wenn ihr eine ganz beson­dere Auf­gabe zukommt: Um Mit­ter­nacht muss sie zwölf Mal die Burg­er­glocke schla­gen — eigen­händig und mit Mil­itärohren­schutz. So wird das neue Jahr tra­di­tionell ein­geläutet und ein ural­ter Brauch fort­ge­set­zt.

Schulk­lassen, Reiseg­rup­pen, ver­liebte Paare und Fam­i­lien drän­gen sich auf der Plat­tform. Der Turmwartin sind alle Besuch­er willkom­men. Dann und wann jagt sie einem verir­rten Tur­m­gast hin­ter­her, der — die Hin­weiss­childer überse­hend — ger­ade durch das falsche Trep­pen­haus absteigen will. Eine stat­tliche Senioren­gruppe hat sich verse­hentlich aufgemacht, gegen den Strom zu schwim­men. Da hil­ft nur noch eins: Bauch einziehen. Aber nor­maler­weise geht der Abstieg leichter und rasch­er, obwohl da die Treppe 32 Stufen mehr zählt als beim Auf­stieg. Hin­unter wen­del­nd wird Gast weniger von Atem­not als vielmehr vom Drehwurm befall­en.

www.bernermuenster.ch

Bild: zVg.
ensuite, Okto­ber 2008

Artikel online veröffentlicht: 16. November 2017