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Wäre Sir Isaac nicht

Von Peter J. Betts - Wäre Sir Isaac nicht, wie der Volksmund über­liefert, eine Panne passiert, wür­den wir uns vielle­icht heute noch wun­dern, warum wir nach einem bösen Stolpern Nase und Hände am Boden schür­fen, anstatt mit dem Hin­terkopf an die Zim­merdecke zu knallen. Isaac New­ton, so der Volksmund, frönte der Sies­ta — heutige Exper­tIn­nen ver­sich­ern uns wieder und wieder deren gesund­heits­fördernde, ja lebensver­längernde Wirkung unter einem Apfel­baum; die Panne (actio): Ein abstürzen­der Apfel fiel ihm auf die Nase, unter­brach die Träume (Film­riss), und der grosse Gelehrte erk­lärte (uns allen) die Schw­erkraft (reac­tio), erfand das Grav­i­ta­tion­s­ge­setz (gewis­ser­massen actio = reac­tio). Nicht weit­er­grü­beln, son­st enden wir noch beim Grav­i­ta­tion­skol­laps und den (umstrit­te­nen) schwarzen Löch­ern. Wäre den Schwest­ern Tatin nicht — bei Apfel‑, Tei­gund Zeitk­nap­pheit der vor­bere­it­ete Apfelkuchen gemäss Peter’s Prin­ci­ple umgestülpt auf den Boden gefall­en — eine pein­liche (?) Panne wäre die heutige Dessertküche um eine Köstlichkeit ärmer: den wun­der­bar würzi­gen, inten­siviert nach Apfel UND Karamell schmeck­enden, immer knus­pri­gen, gedeck­ten Apfelkuchen gäbe es nicht. Und ohne Küchen­panne wäre Maren­go nur als ein Ort, an dem eine Schlacht ver­loren (gewon­nen?) wurde oder als Farbbeze­ich­nung für Stre­i­choder Kam­m­gar­nstoff bekan­nt, nicht aber als Ursprung ein­er anderen kuli­nar­ischen Köstlichkeit. Ein Anreiz, eigene Fehler nicht zu ver­tuschen, son­dern schöpferisch zu nutzen? Zugegeben, nicht jede Panne führt auss­chliesslich zum Glück. Wem hat beispiel­sweise der entschei­dende Nav­i­ga­tions­fehler von Christoph Kolum­bus Glück gebracht, wem Unglück? Aber WEIL der «ensuite»-Computer in «e‑51» (März-Num­mer) eine (zen­suri­erende) PANNE GEBAUT hat, wird der Essay nochmals gedruckt (Seite 80), dies­mal voll­ständig, das heisst: MIT DEN SCHLUSSNOTEN, und damit wird die MÖGLICHKEIT ERSCHLOSSEN, über Wesen und Poten­zial des KLEINGEDRUCKTEN (Schluss — oder Fuss­noten, Spezialbes­tim­mungen zum Beispiel in Ver­sicherungsverträ­gen, beiläu­fig oder zwis­chen den Zeilen deklar­i­erte Grundgedanken als Gestal­tung­sprinzip­i­en usw. ) und des ZUFALLS ZU REFLEKTIEREN. Als der «e‑51»-Compi sich weigerte, die anders for­matierte Fuss­noten zu inte­gri­eren (lei­der auch ein zeit­gemäss­er Aus­druck von Ablehnung des Fremd­stäm­mi­gen), hat er einem (mein­er Ansicht nach) bösar­tig ver­spiel­ten, recht aus­sagekräfti­gen, vielle­icht gar zum Denken anre­gen­den Text sehr wirkungsvoll die Zähne gezo­gen. Das Verbleibende, höch­stens ganz nett. Auch die Schlussnoten, allein für sich, besagen wenig — in der Kom­bi­na­tion ist einiges an Zünd­stoff vorhan­den. Über­prüfen Sie das doch ein­mal, verbinden Sie das schein­bar Unzusam­men­hän­gende, spie­len Sie! Eine anständi­ge Panne passiert sel­ten gezielt. Zufall? Oft eine Frage des Zeit­geistes? Dass Got­tfried Wil­helm Leib­niz und Sir Isaac New­ton (bei­de gewis­ser­massen neben­bei) etwa gle­ichzeit­ig und völ­lig unab­hängig voneinan­der die Infin­i­tes­i­mal­rech­nung erfun­den haben, klingt nach Zufall — war es auch der Zeit­geist, der mit­mis­chte? Dif­feren­zialund Inte­gral­rech­nung — in unser­er Zeit (mit mehr oder weniger Geist) wird viel von Inte­gra­tion gere­det, in den ver­schieden­sten Lebens­bere­ichen. Und vom Ver­mö­gen, zu dif­feren­zieren. Etwa in der Prax­is der Förderung kul­turellen Schaf­fens. Man dif­feren­ziert etwa zwis­chen Erfolg und Mis­ser­folg, Pro­fil und Offen­heit. Qual­ität am Erfolg messen? (Obwohl man genau weiss, dass der Erfolg eines Buch­es oder dessen Autorin nichts mit der Qual­ität des Werkes zu tun haben kann. Es gibt sehr gute Büch­er und auch mis­er­able, die erfol­gre­ich sind. Es gibt vorzügliche Büch­er und auch katas­trophale, die keinen Erfolg haben. Erfolg sagt nichts über die Qual­ität aus. Eben­so wenig bei Büch­ern, wie bei The­atern usw.) Der Zeit­geist hin­ter dem Kul­tur­poli­tis­chen Konzept der Stadt Bern für die Jahre 1996–2008 anerkan­nte das schöpferische Poten­zial des Mis­ser­fol­gs — von der Überzeu­gung aus­ge­hend, dass keine Kün­st­lerin und kein Kün­stler absichtlich eine Panne baut, aber dass die meis­ten Pan­nen aus­gew­ertet und genutzt wer­den kön­nen. Dieses Wis­sen wurde in die Förderung­sprax­is inte­gri­ert und bildete das grund­sät­zliche gegen­seit­ige Ver­trauen zwis­chen Geförderten und Fördern­den — gegen­seit­ige Analy­sen der jew­eili­gen Tätigkeit­en eben­falls inte­gri­erend. Das Papi­er der KSK (Kon­ferenz der Schweiz­er­städte für Kul­turfra­gen) hat­te ihre Überzeu­gung 1984 als Vor­läuferin des Konzeptes in ihren «The­sen zur städtis­chen Kul­tur­förderung in der Schweiz» wie fol­gt for­muliert: « …der kul­turelle Freiraum und die Eigenge­set­zlichkeit des Kul­turbere­ich­es (sind) zu garantieren (auch die Möglichkeit von Mis­ser­fol­gen, die zum kreativ­en Schaf­fen gehört, muss in Kauf genom­men wer­den).» Und es lohnt sich immer, über das Kleinge­druck­te, das schein­bar Beiläu­fige nachzu­denken und darüber, was zwis­chen den Zeilen ste­ht.

Foto: © Alexan­der Egger
ensuite, April 2007

Artikel online veröffentlicht: 21. September 2017