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Wegweiser zurück in die Zukunft

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Von Ves­na Mlakar - Das Alter ein­fach abschüt­teln? – Geht nicht! Noch viel weniger funk­tion­iert aber, den Tanz aus Kopf und Kör­p­er eines Tänz­ers zu ver­drän­gen. Egon Mad­sen – unter John Cranko einst eine der führen­den und zugle­ich prä­gend­sten Inter­pre­ten-Per­sön­lichkeit­en – kann wun­der­bar davon erzählen. Umso mehr, wenn ihm rund um die Frage des „Warum?“ Chore­ograf Amos Bel-Tal bei der Aus­for­mung der kreativ­en Anmod­er­a­tion („Speech“) für seinen jüng­sten Urauf­führungsabend zur Hand geht.

Als es im Stuttgarter Ensem­ble sein­erzeit nichts aufre­gend Neues mehr anzu­pack­en gab, entsch­ied sich Mad­sen fürs Schlussmachen – und tanzte bis 2006 in Jiří Kyliáns Ned­er­lands Dans The­ater III ein­fach weit­er. Sei­ther ist er als Coach inter­na­tion­al für junge Tänz­er im Ein­satz und auf das Eng­ste mit Eric Gau­thiers Dance Com­pa­ny ver­bun­den. Sobald er die Bühne betritt (spätestens jedoch, wenn er sich einen Abschnitt des roten Tren­nvorhangs als langes Bal­lk­leid aneignet), liegen ihm die Zuschauer zu Füßen: ein warmherzig-strenger Blick oder wenige, aus dem Inner­sten nach außen gerichtete und in ihrer Akzen­tu­ierung genial aus­tari­erte Gesten und Bewe­gun­gen genü­gen. Der Tanz – das ist und bleibt sein Motor, als Kün­stler und Men­sch.

Zu ein­er – wie er es nen­nt – „etwas anderen Vorstel­lung“ lud der 73-jährige Däne am 1. Novem­ber ins Stuttgarter The­ater­haus. Und das Pub­likum strömte her­bei – darunter zahlre­iche Weg­be­gleit­er und jün­gere Beruf­skol­le­gen. Schon im Vor­feld für Neugi­er sorgte Mad­sens Idee, für sein bewe­gen­des Road­movie „Grey­hounds“ eine Landsmän­nin – die ehe­ma­lige Neumeier-Muse und bis 2013 Päd­a­gogis­che Lei­t­erin der Bal­lettschule des Ham­burg Bal­lett Mar­i­anne Kru­use – zurück auf die Bret­ter ihrer Kar­ri­erewelt zu holen. Bei­den diente ein (be)sinnlicher Pas de deux aus John Neumeiers frühem Werk „Sep­a­rate Jour­neys“ (Musik: Samuel Bar­ber) als Rück­erin­nerung an eine Zeit, in der die Kraft ihrer kör­per­lichen Möglichkeit­en die Art und Weise dominierte, sich auszu­drück­en. Behut­sam in den Raum skizziert und auf markante Momente hin reduziert.

Um das Gen­er­a­tionsquar­tett zu ver­voll­ständi­gen, überre­dete Egon Mad­sen noch zwei Ex-Solis­ten des Stuttgarter Bal­letts zur Mitwirkung an der chore­ografis­chen Reise zum nicht ver­siegen­den Quell der Beweg-Gründe. Julia Krämer und Thomas Lem­pertz hat­ten das Spitzenensem­ble 2004 ver­lassen. Sie, um mehr Zeit für die Fam­i­lie zu haben; er für einen weit­eren Traum: das eigene Fash­ion-Ate­lier. So find­et sich sein Name unter der Rubrik „Kostüme“ weit­er­hin auf Pro­gram­mzetteln divers­er zeit­genös­sis­ch­er Tanzpro­duk­tio­nen.

Mit einem Solo von Mar­co Goecke unter­mauerte Lem­pertz seine biografis­chen O‑Ton-Ein­spielun­gen. Darunter das Geständ­nis, noch immer füh­le er sich in der Umge­bung von Tänz­ern am wohlsten. Bei solch­er explo­siv­en Sou­veränität mag man kaum glauben, dass er je seine Schläp­pchen gegen eine andere Pas­sion getauscht hat! Im Auge des Betra­chters wird lange haften bleiben, wie er seine mimisch-verz­er­rte und durch glieder­ras­sel­nde Bewe­gungspow­er bedrängt-gehet­zte Gestalt zu Jeff Buck­leys Song „Je N’En Con­nais Pas La Fin“ nach dynamisch übers Par­kett gewis­cht­en Schrit­tfol­gen fast ganz Rich­tung Boden zusam­menkrümmt, ohne von den Sohlen zu kip­pen.

Tanzen in der Pro­fil­i­ga erfordert von Jugend an Hingabe – mit jed­er Fas­er des Kör­pers. Ständi­ge Impul­skon­trolle und Verzicht gehören wie selb­stver­ständlich dazu. Ganz den Pre­mieren­er­wartun­gen entsprechend – Alter ist in der Sparte Tanz ja längst kein Tabuthe­ma mehr – ver­tiefte auch das von Mau­ro Bigonzetti Julia Krämer anver­traute Solo bild­stark die Gesamt­the­matik des Abends, sich von einem exis­ten­ziell-wichti­gen Lebens­ab­schnitt – auch men­tal – zu ver­ab­schieden. Eine Schachtel voller Fotos ist Bigonzettis sim­pler Coup für diese Tänz­erin, die über Jahrzehnte Emo­tio­nen und Gefüh­le ver­schieden­ster Rol­len­charak­tere tänz­erisch auslebte. Offen­sichtlich Abbilder ihrer Büh­nen-Alter Egos, die Julia Krämer zuerst mit Hän­den und Füßen über einen Tisch verteilt, dann mit wech­sel­nden Gefühlen an sich reißt – und auch mal eines zer­reißt. Als das let­zte gar an ihrer Stirn kleben bleibt, hil­ft nur ein entschlossenes Fin­ger­schnip­pen. Nicht mehr als eine Bewe­gung, die allerd­ings mehr aus­sagt als tausend Worte!

Egon Mad­sens „Grey­hounds“ bedeuten 60 Minuten voll hin­ter­gründi­gem Dri­ve. Ein­mal Tänz­er, immer Tänz­er! Sobald aus dem Off „Danced all night“ der Tiger Lil­lies erklingt, nehmen Mad­sen & Kru­use und Lem­pertz & Krämer die Beine unter die Arme. Unter ihren wendi­gen Hand­grif­f­en mutieren vier Stüh­le zum Zugabteil. Weit­er­hin unter­wegs zu bleiben, ist das Leit­mo­tiv. An sich für jed­er­mann gültig … Prädikat „Beson­ders wertvoll“! Nicht zulet­zt, weil Eric Gau­thi­er am Ende die kleine Truppe in Hut und Man­tel den schla­gen­den Beweis antreten lässt, „the best Freak­show in town“ (Musik: Tiger Lil­lies) zu sein.

Nach ein­er ersten, sogle­ich ausverkauften Staffel im Novem­ber lassen Bühne und Pub­likum die vier Ehe­ma­li­gen so schnell nicht wieder los. Schon zum Jahreswech­sel bietet sich erneut die Chance zu dieser unter­halt­samen Auseinan­der­set­zung mit dem The­ma „Alter & Tanz“.

 

The­ater­haus Stuttgart
Siemensstrasse 11
70469 Stuttgart
Tel. +49/(0)711/402 07–0

www.theaterhaus.com

Vorstel­lung­ster­mine:
30.12., 31.12.2015 (19 und 21.30 Uhr), 2.1.–5.1.2016

Bilder: zVg.

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Artikel online veröffentlicht: 10. Dezember 2015 – aktualisiert am 17. März 2019