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Wie ungesund sind schlechte Nachrichten?

Von Klaus Bonano­mi - Kino­brand in Istan­bul! Nach ersten Infor­ma­tio­nen hat es offen­bar mehrere Ver­let­zte gegeben! Mehr an Infor­ma­tion hat «10 vor 10» zwar nicht, dafür aber schau­rig schöne Bilder von Rauch und Flam­men, von Feuer­wehrleuten und Ret­tungskräften. Zugunglück in Indi­en! Mehr als 30 Tote; umgestürzte Bah­n­wag­gons, heru­mir­rende Men­schen in tro­pis­ch­er Land­schaft… Schiesserei in ein­er Zürcher Bar! Und nicht nur TeleZüri ist dabei, son­dern auch «10 vor 10» berichtet aus­führlich. Geisel­nahme in Athen! Unbekan­nte kapern einen Bus mit 26 Men­schen an Bord, lassen im Ver­lauf des Tages einige Geiseln frei, fordern Lösegeld, son­st werde der Bus in die Luft gesprengt! Die Tagess­chau bringt Bilder von einem Bus in einem Athen­er Aussen­quarti­er, befragt einen Tankwart, der etwas gese­hen oder gehört hat, und weiss zu bericht­en, vor Ort küm­mere sich ein Care-Team von pro­fes­sionellen Psy­cholo­gen um einige freige­lasse­nen Geiseln und schock­ierte Ange­hörige.

Wo immer in der zivil­isierten Welt etwas Schreck­lich­es geschieht, ist sofort ein Care-Team zur Stelle; bloss dem unbeteiligten TV-Zuschauer helfen keine pro­fes­sionellen Psy­cholo­gen beim Umgang mit der täglichen Flut von schlecht­en Nachricht­en… Dabei hät­ten wir doch auch Hil­fe nötig. Denn «Fernsehnachricht­en schla­gen aufs Gemüt»; so jeden­falls betitelte die britis­che Zeitung «The Guardian» im Dezem­ber den Bericht über eine Studie des Stress­forsch­ers Atti­la Szabo von der Uni­ver­sität Not­ting­ham. Der unter­suchte 170 Stu­dentIn­nen vor und nach dem Kon­sum ein­er 15-minüti­gen TV-Nachricht­ensendung — und kam zum Schluss, dass die Proban­den nach dem TV-Kon­sum im Schnitt deut­lich niedergeschla­gen­er waren; die Nachricht­ensendung habe mess­bar Ver­wirrung, Irri­ta­tion, Wut und Angst aus­gelöst. «Die Mehrheit der Nachricht­en bei uns, in Ameri­ka und in der west­lichen Welt im all­ge­meinen ist neg­a­tiv», wird der Forsch­er zitiert. Und während die Zeitungsle­serin schlechte Nachricht­en ein­fach überblät­tern könne, sehe sich der Fernse­hzuschauer gezwun­gen, auch die «bad news» mitzunehmen, wenn er den Fort­gang der Sendung nicht ver­passen wolle.

Ob auch in den Schweiz­er TV-Nachricht­ensendun­gen mehrheitlich «bad news» vorkom­n­men, weiss ich nicht; mein Ver­such ein­er nicht repräsen­ta­tiv­en Erhe­bung Mitte Dezem­ber stellte mich zuerst mal vor die Schwierigkeit, schon nur zu definieren, was nun wirk­lich eine schlechte Nachricht sei? Natür­lich: Neue Span­nun­gen zwis­chen Israelis und Palästi­nensern, die hohe Luftver­schmutzung unter dem vor­wei­h­nächtlichen Hochnebel, die von CVP und SVP durchgestierte Kürzungs-Kurz­schlus­sak­tion in Sachen Pro Hel­ve­tia oder das Ende der Serie «Sex and the City» — das sind klare Fälle von «bad news». Wirk­liche «good news» gabs in der Berichtswoche sel­ten, etwa den gelun­genen Start von Bahn 2000 oder den Rück­gang an BSE-Fällen.

Der Grossteil dessen, worüber berichtet wird, ist in der Ten­denz neu­tral; und was für den einen etwas Gutes bedeutet, ärg­ert die andere und umgekehrt. Wenn Swiss Flüge stre­icht, dann tun mir die um ihre Jobs zit­tern­den Flight Atten­dants leid; ander­seits freut mich das, weil so etwas weniger Kerosin sinn­los in die Atmost­phäre gepustet wird. Und schliesslich: Vieles, worüber berichtet wird, ist wed­er gut noch schlecht, son­dern schlicht irrel­e­vant — Anna Kurnikowa will Enrique Igle­sias heirat­en, Formel-1-Star Vil­leneuve besucht seine Schweiz­er Ver­wandten, und jemand hält sich ein Wild­schwein als Hausti­er: Darüber und über noch viel mehr berichtete «10 vor 10» in diesen Tagen.

Nachricht­en han­deln defin­tion­s­gemäss von dem, was neu, was beson­ders, was ausseror­dentlich ist; das Fernse­hen berichtet nicht über die vie­len tausend Flugzeuge, die tagtäglich sich­er lan­den, son­dern über das eine, das abstürzt. So gese­hen, wären «bad news» tat­säch­lich «good news»: Denn dies hiesse dann wohl, dass die Welt abge­se­hen von den paar Schreck­ens­meldun­gen eigentlich ganz in Ord­nung wäre. Und es gibt «bad news», die mich etwas ange­hen, die mich betr­e­f­fen, mich vielle­icht gar zum Han­deln bewe­gen kön­nen: Ich kön­nte etwas gegen die Luftver­schmutzung tun, weil daran nicht der Hochnebel schuld ist, son­dern der Schad­stof­fausstoss von Autos und Heizun­gen; ich kön­nte Poli­tik­erIn­nen wählen, die auf eine kün­st­lerische Pro­voka­tion etwas sou­verän­er reagieren als unsere real existierende katholisch-kon­ser­v­a­tive Stän­der­ats-Mehrheit; ich kön­nte mich bei ein­er Organ­i­sa­tion engagieren, die sich für die Ver­ständi­gung zwis­chen Israelis und Palästi­nensern ein­set­zt…

Und doch glaube ich nicht, dass sich die Nachricht­en-MacherIn­nen so ein­fach aus ihrer Ver­ant­wor­tung stehlen kön­nen. Zu oft geht es — ger­ade im bild­mächti­gen Medi­um Fernse­hen — bloss um den Ner­venkitzel, um die Befriedi­gung der Sen­sa­tion­s­gi­er. Oder was geht mich ein Kino­brand in Istan­bul mit eini­gen Ver­let­zten an? Was hat die Schiesserei in ein­er Zürcher Bar in einem nationalen Fernseh­pro­gramm zu suchen? So tragisch es auch ist: Was soll ich damit anfan­gen, dass bei einem Zugunglück in Indi­en 30 Men­schen ums Leben gekom­men sind? Warum berichtet man über eine Geisel­nahme im fer­nen Athen — die sich einige Stun­den später in nichts auflöst? Weil man eine Sto­ry wit­tert, voll dabei sein und ja nichts ver­passen will. Ich denke, dass es vor allem solche «bad news» sind, die den Teil­nehmerIn­nen an der erwäh­n­ten Studie von Not­ting­ham aufs Gemüt schlu­gen. Solche Nachricht­en sind nur für die Phar­main­dus­trie «good news», weil sie dann ihre Beruhi­gungspillen bess­er abset­zen kann.

Aus der Serie Von Men­schen und Medi­en
Car­toon: www.fauser.ch

ensuite, Jan­u­ar 2005

Artikel online veröffentlicht: 19. Juli 2017