Von Andrea Baumann - Walter Matthias Diggelmann war zu Beginn der sechziger Jahre einer der bekanntesten, profiliertesten und auch umstrittensten Autoren der Schweiz. Er geriet mit seinen Betrachtungen in ideologische Auseinandersetzungen seiner Zeit und sorgte mit seinen Büchern für zum Teil hitzige politische Debatten. Dies führte sogar dazu, dass er seine Bücher über Jahre nur noch in Deutschland veröffentlichen konnte.
Schreibend hat sich Diggelmann seinen Platz in der Gesellschaft erobert. Leben und Schreiben waren für ihn eins und kannten beide nur das eine Ziel, die eine Sehnsucht: sich selbst zu erfinden, so lange, bis die tödliche Krankheit ihn im Jahre 1979 zum Verstummen brachte.
Er war ein unglaublich produktiver und streitbarer Autor und Zeitgenosse, der nicht nur die literarischen Möglichkeiten nutzte, sondern auch das Forum Strasse und das politische Amt als POCH-Mitglied im Zürcher Gemeinderat, um seinen Unmut über die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft kundzutun.
„Jahrzehnte war es ruhig um Diggelmann“, sagt seine ehemalige Lebensgefährtin und Publizistin, Klara Obermüller. Jetzt wird der vergessene Schweizer Autor wiederentdeckt. Der Verlag edition8 editiert gegenwärtig eine Werkausgabe, die 6 Bände umfasst, wovon 4 Bände bereits im Buchhandel erhältlich sind. Es sind dies «Geschichten um Abel», «Der falsche Zug», «Das Verhör des Harry Wind» und «Die Hinterlassenschaft». Letztgenannter Titel, der 1965 erschien, löste eine nachhaltige Aufregung aus. Hintergrund des Romans ist die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1933 bis 1945. Hinein verwoben ist das «Thalwiler Pogrom», die öffentliche Attakke auf den marxistischen Kunsthistoriker Konrad Farner im Jahr 1956, dem Jahr des russischen Einmarsches in Ungarn. Diggelmann vermischte in diesem Roman Fiktion und Dokument, was zu dieser Zeit neu war und offensichtlich zu viel. Auf vertrackte Weise ist der Roman heute noch aktuell, trotz der fehlenden historischen Erläuterungen, die vor allem einer jüngeren Leserschaft nicht in Erinnerung sind. Auch in diesem Roman schimmert die Dringlichkeit durch, dass Diggelmann zeitlebens schreibend auf der Suche seiner Herkunft war. Diggelmann hatte eine unglückliche Kindheit und zerrissene Jugend gehabt, vaterlos, richtungslos. Davon wollte er erzählen, immer wieder. Sein Stoff war immer sein intensiv gelebtes Leben. Im Roman «Das Verhör des Harry Wind» schildert er die Geschäftspraktiken einflussreicher Meinungsmacher, die er in einer Werbeagentur selber kennen gelernt hatte.
Nicht nur der Buchhandel hat Walter Matthias Diggelmann einen zweiten Auftritt beschert, auch das Theater findet gefallen an dem engagierten Autor. Tanja Geier hat für das Theater an der Effingerstrasse den Roman «Der Reiche stirbt» adaptiert. «Der Reiche stirbt» erinnert in der Grundstruktur der Handlung an Dürrenmatts Dramaturgie und Einfällen.
Werkausgabe in 6 Bänden bei edition8, Zürich
Band 1: Geschichten um Abel und ausgewählte frühe Erzählungen
Band 2: Der falsche Zug, Erzählungen und Lyrik
Band 3: Das Verhör des Harry Wind, Roman
Band 4: Die Hinterlassenschaft, Roman
Band 5: Briefe und Selbsterzeugnisse
Band 6: Filippinis Garten/ Schatten
Bild: zVg.
ensuite, März 2004