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Wunderwankdorf Bern

Von Stephan Fuchs - 1954 war das Jahr des Rock’ n Roll. In diesem Jahr veröf­fentlichte der 1925 geborene Amerikan­er Bill Haley mit sein­er Band „The Comets“ den wun­der­baren Song „Rock around the clock“ und begrün­det damit eine abso­lut neue Musikrich­tung: den „Rock’ n Roll“. Er, der das Estab­lish­ment erzit­tern liess markierte den Beginn der wilden Kreisch-Girls, die an den ersten grossen Konz­erthallen entzückt in Ohn­macht fie­len. Der leg­endäre Song „Rock around the clock“ wurde 1955 zur Titel­musik für den noch immer spek­takulären Kult­film „Die Saat der Gewalt“ und wurde so auch zum durch­schla­gen­den Erfolg der Plat­tenin­dus­trie, mit 25 Mil­lio­nen verkauften Scheiben. Rock’ n Roll wie er sich liebt: Auf sein­er Deutsch­land Tournee kommt es in Essen und Berlin zu regel­recht­en Zuschauer­tu­mul­ten und die schock­ierten Erwach­se­nen nan­nten ihn Jugend­verder­ber und Radau­musik­er. So sollte Rock Musik sein. Im sel­ben Jahr erhielt Ernest Hem­ing­way den Lit­er­atur­preis für ‚The Old Man and the Sea‘, während die Stadt Mannheim der deutschen Tänz­erin Mary Wig­man den Schiller Preis zus­pricht. Nicht nur: Deutsch­land schoss in Bern Fuss­ball Geschichte:

„Bozsik, immer wieder Bozsik. Der rechte Läufer der Ungarn hat den Ball ver­loren, dies­mal an Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopf­ball abgewehrt. Aus dem Hin­ter­grund müsste Rahn schießen. Rahn schießt… Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!“. Her­bert Zim­mer­mann, der deutsche Radiore­porter ist außer sich. „Hal­ten Sie mich für ver­rückt, hal­ten Sie mich für übergeschnappt!“ Der 4. Juli 1954, der Tag des End­spiels, war son­nig, wun­der­bar som­mer­lich halt. Bis zwei Stun­den vor dem Anpfiff. Da begin­nt es zu reg­nen und Deutsch­land ist sechs Minuten vor Schluss, im strö­menden Regen Welt­meis­ter gewor­den. Deutsch­land, der totale Aussen­seit­er an der WM 54 spielte im Bern­er Wankdorf Sta­dion mit soviel Lei­den­schaft wie man es von der Nation­al Mannschaft in den 50 Jahren nur dieses eine Mal gese­hen hat. Wankdorf Bern, in einem wogen­den Meer von 60‘000 begeis­terten Zuschauern erlebte Geschichte. Hoch oben in der Sprecherk­abine haucht der völ­lig erschöpfte Radiore­porter „Aus, Aus, Aus, … Aus, das Spiel ist aus“ in das Mikro­fon. Her­bert Zim­mer­mann, der übergeschnappte, der erschöpfte Radiore­porter kom­men­tierte Radio Geschichte. Fritz Wal­ter der Mannschaft­skapitän, hält den Welt­meis­ter­pokal, den Cup Jules Rimet, unter dem Jubel der Kam­er­aden und tausender Zuschauer in den Him­mel. Es war Fuss­ball und Radio wie es schön­er nicht sein kon­nte.

Zimmermann’s Reportage ist ein Juwel. In der Geschichte des deutschen Hör­funks hat­te die Sportre­portage während der Weimar­er Repub­lik, beson­ders aber unter den Nation­al­sozial­is­ten mit den Über­tra­gun­gen der Boxkämpfe von Max Schmel­ing und natür­lich den Olymp­is­chen Spie­len von 1936 in Berlin ihre größte Zeit. Doch die Reportage vom Bern­er Wankdorf über­traf alles: An jen­em Son­nta­gnach­mit­tag des 04. Juli 1954 waren die son­st so bevölk­erten Strassen der blutjun­gen Bun­desre­pub­lik leerge­fegt wie nie zuvor. Deutsch­land erstar­rte, drück­te die Dau­men und hing in den Kneipen förm­lich an den Radioap­pa­rat­en. Deutsch­land war für sechs Minuten atem­los und lauschte. Die Sportre­portage wie die vom Bern­er Wankdorf war eine noch nie da gewe­sene Über­tra­gung. Noch nie war Radio der­massen eupho­risch, span­nend und hin­reis­send wie in jenen let­zten sechs Minuten des „Wun­ders von Bern“. Ein kleines Stück Glück war wohl dabei, denn zwis­chen den vier deutschen WMRe­portern Zim­mer­mann, Kurt Brumme, Gerd Krämer und Rudi Michel wurde gelost, wer das erste Spiel über­tra­gen durfte. Die Vor­run­den­Begeg­nung und das End­spiel fiel dabei in Zim­mer­manns Hände. Wer hätte das gedacht; Starke Män­ner in Trä­nen und in eupho­rischem Wahnsinn. Selb­st heute wer­den in den meis­ten Bericht­en über das 54er Finale die schwarzweiß Bilder des Spiels mit der Radiore­portage Zim­mer­manns unter­legt. Sog­ar jenen, die kein Inter­esse am run­den Led­er hegen sind die Jubel­rufe Zim­mer­manns bekan­nt: Bis in die Hit­pa­rade schaffte es der eksta­tis­che Radiore­porter, als die deutsche Pop­gruppe „OKAY“ in den 80er Jahren ein Hit mit ein­er Sym­biose der Zim­mer­mannschen Reportage und Tanzrhyth­men lan­dete.

Die Rhyth­men sind unter­dessen verblasst. Wankdorf, das leg­endäre Fuss­ball­sta­dion lot­terte vor sich hin. Die Bänke ver­mod­erten, die Ränge zer­bröck­el­ten und Unkraut über­wucherte, was einst der Stolz der Nation war. Ein weit­eres Wun­der überkam Bern erst wieder am 3. August 2001, als das Sta­dion kon­trol­liert in die Luft gesprengt wurde. Das 1925 erbaute, eigentlich schützenswerte Zeit­doku­ment, zer­barst unter grotesker Schön­heit. Damit hat­te, neb­st dem Lon­don­er Wem­b­ley Sta­dion eine zweite leg­endäre Fuss­bal­lare­na in Europa aus­ge­di­ent. „Aus, Aus, Aus, … Aus, das Spiel ist aus…“ hauchte Radiore­porter Her­bert Zim­mer­mann in sein Mikro­fon. Hoch oben sass er in der Sprecherk­abine, unter ihm wogt die Menge von 60.000 Zuschauern. Verblasst… Das Spiel, die Euphorie war schon lange entschwun­den, im Tem­pel der grossen Lei­den­schaft herrschte bek­lem­mende Stille. Wankdorf war manch­mal gespen­stisch.

Wirk­lich aus war es dann am Abschlussspiel der Young Boys Bern gegen Lugano, am 07. Juni 2001. Nach dem Spiel wur­den die Eingewei­den aus dem Sta­dion her­aus­geris­sen. Da macht­en die Zuschauer aus der Are­na „Klein­holz“ und sicherten sich die begehrten Trophäen: Trainer­bänke, Eck­fah­nen, Tribü­nentafeln und hölz­erne Sitze mit Würmern. Doch bere­its vor einem Jahr hat­ten Sou­venir­jäger zugeschla­gen. Die tren­nten Fein säu­ber­lich ein Quadrat mit dem Elfme­ter­punkt aus dem Rasen her­aus. Erin­nerun­gen und Gefüh­le von 1954 soll­ten damit wach gehal­ten wer­den. Der deutsche Bun­deskan­zler Ger­hard Schröder, sel­ber ein Fuss­ball­narr, beze­ich­nete Wankdorf als eines jen­er Bauw­erke, das für Deutsch­land eine her­aus­ra­gende Bedeu­tung hat. Schröder bekam von Bun­desrat Moritz Leuen­berg­er ein Stück des Rasens und den Klei­der­hack­en des dama­li­gen Mannschaft­skapitäns Fritz Wal­ter geschenkt. „Ein Stück Nachkriegs­geschichte“, wie es Leuen­berg­er nan­nte. Wankdorf und die Leg­en­den und Mythen um das Sta­dion ver­pufften in der Explo­sion im Rauch und zer­platzten in den Trüm­mern wie die Seifen­blasen klein­er Kinder.

Das roman­tis­che Sta­dion von Bern sorgte seit 1925 für heisse Gemüter und Trä­nen. Trä­nen der Nieder­lage, Trä­nen der geball­ten Euphorie und des Sieges, Trä­nen die während der Spiele geflossen sind. Das altehrwürdi­ge Sta­dion mit dem für britis­che Besuch­er eher anrüchig lusti­gen Namen „Wankdorf“, wird nun zum poli­tisch kor­rek­ten und lang­weili­gen „Stade de Suisse“. Da gibt es nun, zumin­d­est für die Briten, keine Lachträ­nen mehr. Sat­te 70,8 Prozent der Berner­In­nen find­en den Namen „Stade de Suisse“ völ­lig daneben. Sie dür­fen wohl aus sen­ti­men­tal­en grün­den noch „Wankdorf Bern“ anhän­gen. Zur let­zten Ehre der Bern­er kann man auch noch „Nation­al­sta­dion“ ganz am Schluss anset­zen. Trä­nen der Ent­täuschung flossen den nos­tal­gis­chen Bern­er Fuss­ball­fans und den Geschäft­sleuten, die dem ver­passten Gel­dregen hin­ter­her winken, als der Schweiz­erische Fuss­ball Ver­band die span­nend­sten Spiele der EURO 08 an die Basler vergeben hat. Und das obwohl es eigentlich den Bern­ern zuzus­prechen war, dass die EM über­haupt in die Schweiz kom­men kann. Dort, im St. Jakob-Park find­et denn nun auch das Eröff­nungsspiel, zwei weit­ere Grup­pen­spiele, zwei Vier­tel­sowie ein Halb­fi­nal­spiel statt. Basel hat somit wohl das eigentliche Nation­al­sta­dion. (Das darf man ja nur unter vorge­hal­tener Hand sagen und ich sag es nur Ihnen, weil ich weiss, dass sie es nicht weit­er­sagen.)

Bern hat dafür ein tolles Shop­ping. Auf ins­ge­samt 14‘000 m² sind ca. 30 Geschäfte geplant. 12 — 15‘000 Besuch­er wer­den täglich im Einkauf­s­markt unter dem Spielfeld und den Tribü­nen ihren Einkauf­ss­pass auf höch­ster Ebene auskosten kön­nen. In den Sem­i­narund Kon­feren­zräu­men kön­nen zahlre­iche Unternehmen ihre Kun­den oder Mitar­beit­er über die neusten Entwick­lun­gen informieren und aus­bilden. In ver­schieden Restau­rants mit ein­er Kapaz­ität von total über 2000 Plätzen wer­den die Besuch­er auch kuli­nar­ische Vielfalt vorfind­en, die jeden Geschmack tre­f­fen sollte. Sports­chlem­mer der Spitzen­klasse. Die Superla­tive: Zur Zeit ist die Baustelle die grösste oberirdis­che Baustelle der Schweiz, sein Umfang ist gröss­er als das Kolos­se­um von Rom und das Gewicht des Armierungsstahls über­trifft mit ca. 8’500 Ton­nen das­jenige des Eif­fel­turms in Paris um sat­te 20%. Das Trostpflaster: Das Grüne Bünd­nis und Green­peace ver­suchte mit Solargekühlter Gratis-Bio-Glacé den Zuschauerin­nen und Zuschauern den Abschied zu ver­süßen, die Wehmuts-Trä­nen zu trock­nen und das Auge für eine son­nige Zukun­ft zu öff­nen. In der Tat eine son­nige Zukun­ft: Das Son­nenkraftwerk, mit ein­er Gesamt­fläche von 8‘000 m+ und 6.5 Mil­lio­nen Baukosten wird eine Leis­tung von 850 Kilo­watt abgeben und pro­duziert jährlich Strom von rund 700‘000 Kilo­wattstun­den. Eine Energiemenge die dem jährlichen Strombe­darf von ca. 250 Haushal­tun­gen entspricht. Hi-tech ver­sus Nos­tal­gie…

Wenn denn schon nicht der EM Halb­fi­nal nach Bern kommt dann, Wun­der geschehen ja in Bern, kom­men vielle­icht wieder die geschicht­strächti­gen Ver­anstal­tun­gen in den Tem­pel, oder zumin­d­est ins Wankdorf Quarti­er. Mit ihnen vielle­icht sog­ar Stars die Geschichte schreiben und kreis­chende Girls, die in Ohn­macht fall­en. Denn das Wankdorf Gebi­et wird, neb­st dem „Stade de Suisse“ zum Gipfel des Vergnü­gens und das eigentlich scheus­sliche Quarti­er kön­nte, über kurz oder lang, zum Herzstück des Geschehens in Bern wer­den. Mit dem BEA Messegelände, dem mon­u­men­tal­en, architek­tonis­chen Wun­der­w­erk des Paul Klee Zen­trums, dem Hotel Guisan­platz, dem extra Zubringer „S‑Bahn-Sta­tion Wankdorf“, da haben auch die Briten wieder was zu lachen und dem mil­itärischen Geheim­di­enst an der Papier­müh­lestrasse, sowie dem eben­falls architek­tonis­chen Wun­der­w­erk des schweiz­erischen FBI, dem Bun­de­samt für Polizei, entwick­elt sich Wankdorf zum eigentlichen Bal­lungszen­trum. Bei soviel geball­ter Extrav­a­ganz kön­nen die Basler, seit März haben sie nicht ein­mal mehr ein Kul­tur­magazin, natür­lich nicht mehr mithal­ten.

Bild: aus dem Film «Das Wun­der von Bern», zVg.
ensuite, Juni 2004 unter dem Titel «Wun­der­wankdorf Bern… Wank­ende Wun­der im Dorf Bern… Berns wank­endes Wun­der­dorf…»