Von Stanislac Kutac — Unser Gespräch endete mit den Worten: heute ist ein bedeutender Tag: nämlich der Kürzeste: jetzt wird es wieder besser: eigentlich habe ich nie so alt werden wollen: man muss es hinnehmen können: all die körperlichen Beschwerden, den Verlust der Frau, das Gefühl der Einsamkeit: das langsame Ableben: das mit 80 Jahren unweigerlich beginnt: es ist ja nicht so, dass etwas grösseres, kohärenteres mit dem Alter kommt: ja ich schreibe noch für mich Aphorismen, Gedankensplitter: zu mehr habe ich keine Lust und keine Kraft: die Heilige Vergänglichkeit hat mir der Verleger quasi abgerungen: was Anständiges zu schreiben aber kommt mir nicht mehr in den Sinn: mir fehlt das Gegenüber, die Anregung, zumal mir das Lesen immer schwerer fällt: 58 Jahre Zusammensein mit einer geliebten Frau bedeutet Dauergespräch: wenn das plötzlich wegfällt, fehlt eine elementare Inspirationsquelle, Motivationsquelle, der Sinn und die Lust: nein, ich brauche kein Publikum zur Befriedigung: vielleicht ein paar Menschen, die lesen möchten, was ich so von mir gebe: aber die haben ja genug zum Lesen von mir: ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte, dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen: ich dachte ohnehin nie an den Leser: es war eine Art Drang, Trieb, Schreibtrieb, der mir geholfen hat vage Gedanken auf den Punkt zu bringen: meine Geisteskinder zu gebären nachdem ich schon vier reale Kinder gezeugt hatte: und ingewisser Hinsicht ist es bis heute so: es bleibt der Wunsch Gedanken zu formulieren: ob Erkenntnisse aus meinem Schaffen Einfluss auf mein heutiges Erleben haben: das weiss ich doch nicht: sie fragen Dinge, die ich nicht weiss: ich kann nur sagen, dass ich während jeder Lebensphase das getan habe, was ich für richtig hielt: ich habe keine Grund daran mit fast 90 Jahren etwas zu ändern.
Ich wurde geliebt, also war ich: ich habe lange hin und her überlegt, ob ich die Vergangenheits- oder Gegenwartsform wählen soll: seit meine Frau gestorben ist, bin ich eigentlich nur noch eine halbe Portion: das ist meine Erfahrung: also muss ich das auch so schreiben: die Erfahrung geliebt zu werden, lässt einen spüren, dass man ist: ein bisschen auch wer man ist: dass man bejaht und willkommen ist, so wie man ist: das wird dann weniger: auch wenn Descartes Aussage philosophischer daherkommt: ich denke, also bin ich: ich bin mir da nicht so sicher, dass ein angenommens Subjekt als feste Grösse glauben kann ES erklären zu können: wie schon gesagt, dass ich geliebt wurde, habe ich erfahren: dieses DU ist aus meiner Sicht wichtig im Leben: mir jedenfalls war die Liebe von und zu meiner Frau Beweggrund für vieles, wenn nicht alles.
Nein, ich war nie ein Priester, sondern nur ein Pfarrer, ein Prediger, der das Wort Gottes verkündet: ein normaler Mensch, kein geweihter Vermittler zwischen Mensch und Gott: einer wie wir alle, die wir für einander Seelsorge tragen: jeder Christ ist dazu beauftragt dem Nächsten den Weg zu Gott zu öffnen: ich bin doch kein Asket.
Ich bin katholisch aufgewachsen: als Kind haben mir die religiösen Rituale viel bedeutet: später jedoch bekam ich immer weniger Anworten auf meine Fragen: bis ich aus der Kirche austrat: worauf mir allen Ernstes gedroht wurde, dass ich nicht in den Himmel komme: darauf Herr Marti: das ist geistiger Terror, der praktiziert wurde und immer noch praktiziert wird: meine Frau wäre durch so etwas nicht zu beeindrucken gewesen: sie sagte immer: ich will gar nicht in den Himmel, da muss ein furchtbares Gedränge sein: Karl Barth mein Anstifter sagte einmal einer Frau, die ihn fragte, ob sie ihre Liebsten im Himmel wiedersehen würde: liebe Frau nicht nur die Liebsten auch die anderen: oder wie Meister Eckhart es vom Tisch räumt: wer zu Gott kommt, entfällt sich selbst: besser kann man es nicht sagen: ich habe ihn erst spät entdeckt und als einen grossen theologischen Denker erkannt: nicht als den urdeutschen Mystiker zu dem er stilisiert worden ist: für mich war er jedenfalls nicht das zu wozu ihn die Nazis missbraucht haben: ganz im Gegenteil.
Ja, die Trinität an sich, die Dreifaltigkeit, nicht nur im Bild von Vater, Sohn und heiliger Geist ist eigentlich ein revolutionäres Denkbild gewesen: sie beinhaltet die Grundwerte der Demokratie: Mitsprache, Mitbestimmung, Gewaltenteilung: Legislative, Judikative, Exekutive: eine Machtteilung, die dem Bild eines himmlischen Autokraten, einem Grossvater mit weissem Bart, grundsätzlich widerspricht: meine Beobachtung ist, dass Gott, der sich durch alles ausdrückt, die Vielfalt lieben muss, warum sonst hätte er sie erschaffen: dass jegliches Monopol von Übel ist, ob es sich um ein religiöses, wirtschaftliches oder intellektuelles handelt, ist vollkommen egal: und ich sage das auch im Hinblich auf die christliche Geschichte wie den heutigen Islam, die beide an die alleinige Wahrheitsverkündung geglaubt haben oder immer noch glauben: Gott ist kein Monopolist.
Jetzt sprechen wir doch von Gott: kommen ins Spekulieren: ist es eine Kraft: hat sie einen Willen oder gar eine Absicht: aus dem was ich ableiten kann, hat Gott, was auch immer das ist, einen Schöpfungs- und Zerstörungswillen: alles hat einen Beginn und eine Ende: darum der Titel meines letzten Buches Heilige Vergänglichkeit: wir dürfen doch annehmen, dass dahinter ein System steckt: das nenne ich nun mal Gott: auch deshalb habe ich so Mühe mit der Vorstellung vom ewigen Leben: das ist eine Unbescheidenheit des geburtlichen und sterblichen Denkens, das trotz aller Offensichtlichkeit kein Ende anerkennen vermag: ein vollkommen absurder Gedanke wider dem Willen der Schöpfung: für mich ist eine Option nicht sterben zu müssen die Hölle: ich habe überhaupt keinen Ehrgeiz ewig leben zu wollen: wie schon gesagt: aktuell ist der Mensch für 70 bestenfalls 80 Jahre konstruiert: darüber hinaus erfolgt ein physisches wie psychisches allmähliches Ableben: das ist so: da ist nichts daran, was es zu beschönigen gebe.
Sie wollen einen Ratschlag: ich gebe aber keine Ratschläge: Ratschläge sind überall billig zu haben: wissen sie, ich stand Ratschlägen immer sehr misstrauisch gegenüber: ich sage nur: nicht allzu sehr auf die anderen hören: der eigenen Intuition folgen: der Weg kommt in dem wir gehen: wie ich einmal sagte: das ist aber kein persönlicher Ratschlag: das ist nur Ausdruck meiner Erfahrung.
Ob ich das ElfenauPark magazin lese: ja, ich schaue es mir an: sie wollen wissen, was ich davon halte: nun ja es ist nicht dazu da grosse Literatur abzudrucken: die Schönheit einer gewissen Einfalt, insbesonders bei alten Menschen, darf man aber nicht unterschätzen: den einen oder die andere kenne ich ja: so manche interessante Biographie: so manche bekannte Gesichter: traurig ist manchmal wie selbst ausserordentliche Menschen, wie z.B. mein Freund, der Tübinger Professor Walter Jens, der ein hoch intellektueller Zeitgenosse war, vollkommen in Demenz versinken: und trotz seiner Reduktion und ehemals anderen Vorstellung von dem was lebenswert und was nicht sei, heute um sein Leben fleht: Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.
Ich möchte mich für die 1½ Stunden mit ihnen bedanken, Herr Marti: auch wenn ich während dem Gespräch immer wieder mit dem Gefühl konfrontiert war ihnen nicht zu nahe treten zu wollen: ein wenig zu stören: ein wenig lästig zu sein: höre ich aber die Aufzeichnung, ist davon nichts zu spüren: ausser dass sie sich nicht gerne festlegen lassen: ausser dass ich ihnen die falschen Worte in den Mund lege, wenn sie nach ihren Worten suchen: ausser dass es ein bedeutender Tag war: nämlich der Kürzeste: jetzt wird es wieder besser.
Danke für das Vertrauen und noch etwas trotz Allem: Ihnen alle Liebe zu ihrem 90-sten Geburtstag, Herr Marti.
Der Abdruck dieses Textes erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des ElfenauPark Magazins 25, Bern.
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Foto: zVg.
ensuite, Januar 2011