Von Belinda Meier — Max Frisch wäre im Mai 100 Jahre alt geworden, zugleich jährt sich sein Todestag zum 20. Mal. Was war er für ein Schriftsteller? Was für ein Mensch? Und was hinterlässt er uns? Die vorliegende kleine Reise durch Max Frischs Leben und Werk sucht nach Antworten.
Max Frisch, der heute zusammen mit Friedrich Dürrenmatt zu den populärsten Schweizer Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört, hat ein Werk hinterlassen, dessen Stil, Form und Themen so eigen und unverkennbar sind, wie sein Verhältnis als Autor zu seinem Geschriebenen selbst. In seinen Texten versucht Max Frisch immer wieder die Welt, wie er sie erlebt, darzustellen, ohne sie dabei zu werten. Sein Bestreben, den Inhalt also möglichst ohne Ausschmückung wiederzugeben, ist nur mittels einer für ihn heute typischen Schreibform möglich: die des Tagebuches. Sie ist eine der wesentlichsten Mitteilungs- und Gestaltungsformen Frischs, was sich offensichtlich bei den beiden Tagebüchern («Tagebuch 1946–1949» und Tagebuch 1966–1971»), dann aber auch in «Blätter aus dem Brotsack» (1940) und «Homo faber» (1957) deutlich zeigt. Seine Tagebücher können als Konglomerat von Chronik, Manuskript, Notizbuch und Materialsammlung angesehen werden. Sie sind zwar autobiografisch, verraten dennoch wenig über die Person Max Frisch. Was seine Krisen und Zweifel angeht, so erfährt man in seinem Prosawerk, das ebenfalls die Tagebuchform und das autobiografische Erzählen aufgreift, deutlich mehr. Das Schreiben – so scheint es – resultiert aus seinem inneren Drang, das Erlebte und Geschehende festzuhalten, um sich damit selbst eine Existenz zu geben.
Studium und erste Erfolge Max Frisch, am 15. Mai 1911 in Zürich geboren, begann 1931 mit dem Studium der Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. 1932 starb sein Vater, ein Jahr später brach er sein Studium ab und arbeitete fortan als Journalist. 1934 erschien sein erster Roman «Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt», das literarische Ergebnis seiner 1933 unternommenen Balkanreise. Die erste grosse Beziehung mit der halbjüdischen Berliner Germanistikstudentin Käte Rubensohn nahm ihren Anfang. Die Beziehung scheiterte nach fünf Jahren. Käte wünschte sich Kinder, Frisch fühlte sich dafür noch nicht reif genug, machte ihr dennoch einen Heiratsantrag, da er sich – so Kätes Vermutung – um ihre Aufenthaltsgenehmigung sorgte. Die Beziehung zerbrach. Dass Frisch als Journalist und Schriftsteller zu dieser Zeit oft von Selbstzweifeln und dem Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht gewachsen zu sein, heimgesucht wurde, kam hinzu. Indem er 1936 an der ETH Zürich ein Architekturstudium in Angriff nahm, schlug er eine Brücke zwischen Künstlertum und Bürgertum. Zu diesem Schritt haben ihn, so schreibt er im «Tagebuch 1946–1949», «das Unpapierne, Greifbare, Handwerkliche, die stoffliche Gestalt» und «die Verwirklichung eigener Entwürfe» bewogen. Zwischen 1937 und 1938 brach er mit seinem Schriftstellertum. All seine bis dahin unveröffentlichten Texte verbrannte er. Diesen Einschnitt hielt er ebenfalls im «Tagebuch 1946–1949» fest: «Ich musste zweimal in den Wald hinaufgehen, so viele Bündel gab es, […] ich brauchte eine ganze Schachtel voll Streichhölzer, bis ich mit dem Gefühl der Leere weitergehen konnte. Das heimliche Gelübde, nicht mehr zu schreiben, wurde zwei Jahre lang nicht ernstlich verletzt.» Dann, als er 1939/40 in den Militärdienst eintreten musste, lockerte er das Gelübde auf. Er begann wieder Tagebuch zu schreiben, woraus 1940 schliesslich die «Blätter aus dem Brotsack» hervorgingen. 1941 schloss er das Architekturstudium ab, und bereits ein Jahr später gewann er den Wettbewerb zum Bau des Zürcher Freibads Letzigraben. Dieser Erfolg war die Initialzündung für seine Etablierung als Architekt. 1942 heiratete er Gertrud Constanze von Meyenburg und im selben Jahr noch eröffnete er zusammen mit ihr ein eigenes Architekturbüro. Fortan widmete er sich sowohl der Architektur als auch dem Schriftstellertum in intensiver Weise. Aus der Ehe mit Constanze gingen drei Kinder hervor. Dass Frisch es zeitlebens allerdings nie so genau mit der ehelichen Treue hielt, war – nebenbei bemerkt – nie ein Geheimnis.
Künstlertum versus Bürgertum Die Kombination Architekt und Schrifteller, diese im Grunde genommen gegensätzliche Verbindung von Bürgerlichkeit und Künstlertum, die sich in Max Frischs Lebensweise ausdrückt, war – wenn man seine Werke betrachtet – keine Entwicklung, die sich ganz zwanglos, spontan und leichtfüssig ergeben hat. Dass Max Frisch schon seit früher Jungend Dichter werden wollte, ist belegt. Schriftsteller zu sein hiess aber auch, eine vom bürgerlichen und politischen Leben oftmals abgesonderte Stellung einzunehmen; eine Stellung, die nicht selten auch mit dem Kampf gegen Selbstzweifel und Existenzängste einherging. Das Architekturstudium brachte diese Art von Isolation einerseits und diesen Existenzkampf andererseits vorübergehend ins Gleichgewicht; das Studium, wenn man so will, ermöglichte ihm eine bürgerliche Existenz.
Die Unvereinbarkeit von Bürgertum und Künstlertum hat Max Frisch in zahlreichen Werken thematisiert, so etwa in «J’adore ce que me brûle oder Die Schwierigen» (1943) oder in seinem Erstlingsroman «Jürg Reinhart», dessen gleichnamiger Protagonist – wie Frisch – seine eigenen Werke verbrennt und sich am Ende sogar das Leben nimmt. Im Theaterstück «Graf Öderland» von 1951 wird ebenfalls ein radikaler Ausbruch aus dem Bürgertum geschildert: Ein Staatsanwalt erträgt die bürgerliche Ordnung nicht mehr und versucht, sich ihr aufständisch zur Wehr zu setzen. Obschon er vorübergehend aus dem festen Gefüge ausbrechen kann, holt ihn am Ende alles wieder ein. Ihm wird die Regierungsverantwortung übertragen. Damit ist er wieder mitten drin in dieser festen bürgerlichen Ordnung, aus der er kurz zuvor noch zu entfliehen trachtete. «Graf Öderland» zeichnet damit das Bild einer Gesellschaft, in der kein Platz für Veränderungen ist und in der nur schwer aus fest gefahrenen Mustern ausgebrochen werden kann.
Der Ausbruch aus dem Bürgertum findet sich auch in «Stiller» von 1954. Die Hauptfigur, der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, bricht aus seinem sturen Leben aus, verlässt seine Frau Julika und setzt sich nach Amerika ab. Nach fast sieben Jahren kehrt er unter seinem neuen Namen James Larkin White zurück. Bei der Einreise wird er aufgrund seiner falschen Identität festgenommen und inhaftiert. Am Versuch, Julika, seinen Verteidiger und den Staatsanwalt davon zu überzeugen, dass er nicht Stiller sei, scheitert er kläglich. Julika sieht in ihm nur ihren Anatol. Dieser resigniert schliesslich, geht in die «alte» Ehe zurück und vegetiert vor sich hin bis zum Lebensende seiner Frau. Der Erfolg, den Max Frisch mit «Stiller» verbuchen konnte, gab ihm den Mut, seinem bürgerlichen Leben den Rücken zu kehren. 1954 trennte er sich von seiner Familie, und 1955 schloss er das Architekturbüro. «Stiller», die Geschichte einer gescheiterten Selbstfindung, könnte daher als negative Alternative zur eigenen Entscheidung des Autors gelesen werden.
Rollenzwang, Identitätsproblematik und die Liebe Neben dem Konflikt zwischen Bürgerlichkeit und Künstlertum steht ein weiteres Thema immer wieder im Vordergrund: der Rollenzwang bzw. die Erstarrung in festen Rollen. So sind die Hauptfiguren bei Frisch oftmals im Konflikt zwischen eigenen und fremden Rollenerwartungen. Dadurch werden sie in ihrer Identitätsfindung behindert oder in eine falsche Identität hineingedrängt, wie das bei «Stiller» ganz deutlich der Fall ist. Die Befreiung und Erlösung aus dem Rollenzwang bzw. aus der Erstarrung in fest vorgegebenen Rollen sieht Frisch dann erreicht, wenn man liebt. Im «Tagebuch 1946–1949» schreibt er: «Eben darin besteht die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis.» Die Liebe zwischen Mann und Frau, dieses Kostbarste und zugleich Zerbrechlichste, scheitert in Frischs Werk immer wieder, strahlt aber dennoch eine grosse Kraft und Intensität aus. Das Bildnisverbot aus dem 2. Buch Mose adaptiert Max Frisch auf das Verhältnis der Menschen untereinander: «Du sollst dir kein Bildnis machen, heisst es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – / Ausgenommen wenn wir lieben» – so seine Aussage im «Tagebuch 1946–1949». Nur in der Liebe ist der Mensch nach Frisch also bereit, sein Gegenüber in all seinen Facetten und steten Entwicklungen und Veränderungen anzunehmen. Ein erstarrtes Bild von einem Menschen sei daher eine Versündigung. Dieses erstarrte Bild also, bei dem das Ich sich nicht entfalten kann, weil es durch seine Umwelt in eine falsche Rolle gedrängt wird, ist Thema vieler Werke Frischs. So wird beispielsweise in «Andorra» (1961) Andri von den Andorranern zum Juden gemacht, oder in «Mein Name sei Gantenbein» (1964) spaltet sich das erzählende Ich in verschiedene Rollen auf, schafft dabei in der Möglichkeitsform verschiedene neue Identitäten, um letztlich diesen vorgefertigten Bildnissen entfliehen zu können. Auch in «Homo faber» (1957) haben wir es einmal mehr mit dem Motiv des Rollenzwangs zu tun: Walter Faber, Techniker und Ingenieur, hält energisch an seinem rationalen Weltbild fest. Platz für Gefühle, den Glauben, Gedanken an die Vergangenheit oder an den Tod haben in seinem Leben keinen Platz. Doch je mehr Faber versucht, Herr der Lage zu sein, desto mehr gerät sein Weltbild in Schieflage. Und als er endlich zu begreifen beginnt, ist es zu spät: Er verschuldet den Tod seiner Tochter und ist selbst, als Magenkrebskranker, dem Tode geweiht. In einer Diskussionsrunde mit Berliner Schülern beschreibt Max Frisch seinen Protagonisten Walter Faber wie folgt: «Dieser Mann lebt an sich vorbei, weil er einem allgemein angebotenen Image nachläuft, dem von «Technik». Im Grunde ist der «Homo faber», dieser Mann, nicht ein Techniker, sondern er ist ein verhinderter Mensch, der von sich selbst ein Bildnis hat machen lassen, das ihn verhindert, zu sich selber zu kommen.» Diese Selbstbehauptung des Ichs in der Welt ist eines der zentralen Themen Max Frischs, wie er in einem Gespräch selbst zugibt, wenngleich er einen Vorbehalt einbaut: «Mein literarisches Warenzeichen, ich weiss, ist das Identitätsproblem. Dass ich mich mit dem Warenzeichen nicht identisch fühle, kommt hinzu.» Im einen Satz definiert er die Identitätsproblematik als seine Hauptthematik, im darauf folgenden Satz distanziert er sich sogleich wieder davon. Diese Verweigerung, sich festzulegen oder festgemacht zu werden, ist Teil seiner persönlichen Identität, Merkmal seiner Romanfiguren und zugleich auch Ausdruck seines Schreibstils.
Das Streben nach Wahrhaftigkeit Die Tagebuchform und der stark autobiografische Zug seines Schreibstils ergeben sich aus dem Willen, die Welt des Individuums, wie sie erfahren und erlebt wird, so authentisch und unverblümt wie möglich abzubilden. Im Briefwechsel mit Walter Höllerer definiert Frisch als Aufgabe der Literatur, «das Einzelwesen, […] die Person, die die Welt erfährt als Ich, […] in all ihren biologischen und gesellschaftlichen Bedingtheiten» zu erfassen. «Montauk», diese 1975 erschienene, beispiellos autobiografische Erzählung, drückt dieses Bedürfnis nach rückhaltloser Wahrhaftigkeit bestens aus. Immer wieder wird darin der Wille nach authentischer Beschreibung ohne Erfindung beschworen, obschon sich der Autor im Grunde bewusst ist, dass das gar nicht geht und das Buch daher «Eine Erzählung» nennt. Max, der Erzähler, der sich teils in Ich- und teils in Er-Form äussert, berichtet unglaublich viel aus Max Frischs Leben, bleibt letztlich aber eine Kunstfigur. Die Erzählung schildert ein Liebeswochenende, das Max Frisch ein Jahr zuvor mit der 32 Jahre jüngeren Journalistin Alice Locke-Carey in Montauk, einem amerikanischen Küstenort, verbracht hatte. Die Beziehung zu Alice, die im Buch «Lynn» genannt wird, dient Frisch als Ausgangspunkt, um über die Ehen mit Gertrud Constanze von Meyenburg und Marianne Oellers ebenso wie über die Beziehung mit Ingeborg Bachmann zu reflektieren. Die Buchveröffentlichung löste einen Skandal aus. Marianne Oellers, die vergeblich versucht hatte, die Publikation zu verhindern, liess sich 1979 von Max Frisch scheiden, und Käte Rubensohn übte öffentlich Kritik an ihm. Dennoch muss es wohl diese durchdringende Aufrichtigkeit des Autors sein, die letztlich den Leser berührt und die Wirkungskraft des Geschriebenen ausmacht. Gleichzeitig muss es aber auch die selbst eingestandene Relativität des Berichtens sein, die einen ebenso grossen Teil des Erfolgs von Max Frischs Werken ausmacht. Die Aussage «es stimmt nichts», die der Ich-Erzähler in «Homo faber» ans Ende des Berichts setzt, oder das Nachwort des Staatsanwalts in «Stiller», der eine vermeintlich klärende Sichtweise auf Stillers Ableben ermöglicht, im Grunde aber eine begrenzte Perspektive einnimmt und daher keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben darf, sind Beispiele dieses Relativierens des soeben Erzählten. Das Behauptete wird sogleich wieder in Frage gestellt. Zuerst als feste Grösse in die Runde geworfen, ist es nun zwar da, doch wie es zu verstehen ist, bleibt dem Leser selbst überlassen. Dieser ist es also letztlich, der sich auf seinen eigenen Verstand zurückbesinnen muss, um den Sinn der Texte zu entschlüsseln.
Max Frisch starb am 4. April 1991 in seiner Zürcher Wohnung an Darmkrebs. Im Jubiläumsjahr 2011 sind ihm zu Ehren zahlreiche neue Bücher erschienen, Ausstellungen und Theaterstücke geplant, und für Max Frisch-Leser und Literaturforscher macht der Online-Katalog des Max Frisch Archivs seit kurzem ein riesiges Angebot an Briefen, Zeitungsartikeln, Typoskripten, Entwürfen, Plänen und Bildmaterial zugänglich.
Foto: zVg.
ensuite, März 2011