Von Patrik Etschmayer - Etwa vor 100 Jahren durchlebte die Welt zwei Katastrophen, wobei nur von einer immer wieder die Rede ist, während die andere erst langsam in den Fokus der Historiker und der Öffentlichkeit rückt.
Es ist klar, dass in diesem November das 100. Jubiläum des Endes des Ersten Weltkriegs gefeiert wird. Dieser gilt immer noch als Initialzündung für das meiste, was im darauffolgenden Jahrhundert passierte. Sei es der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, der Kommunismus oder der Niedergang der Kolonialmächte – der Samen dieser und vieler anderer Ereignisse ist im Ersten Weltkrieg gepflanzt worden.
Doch grosse Fragen betreffend den Kriegsverlauf wie auch Ereignisse in weit entfernten Kolonien und Ländern blieben aus. Warum blieb die deutsche Offensive stecken, obwohl die Achsenmächte die ganzen Armeen aus dem Osten an die Westfront werfen konnten? Warum kamen die Kämpfe im Spätsommer fast zum Erliegen, und weshalb brach die Versorgung in Deutschland so radikal zusammen, dass das Kaiserreich kollabierte und der Krieg im November ratzfatz zu Ende war? Warum schüttelte es im Anschluss an ihren Sieg die Mächte der Entente bis in die letzten Winkel der Kolonien durch? Warum bildeten sich in Europa soziale Bewegungen und wurden die Grundlagen für das allgemeine Gesundheitswesen geschaffen, während in Indien durch kastenübergreifende Unruhen der Anfang vom Ende des Britischen Empire eingeläutet wurde? Warum erhoben sich die Koreaner ein erstes Mal gegen die Japaner, und weshalb wurde in Südafrika nach Unruhen in Minen und Bergwerken der ANC gegründet?
Auch wenn wir Europäer vom Ersten Weltkrieg sprechen, so war das ein europäischer Krieg, auf Schlachtfeldern in Frankreich, Italien und Russland ausgetragen, wobei die globale Dimension vor allem durch die aus Kolonien stammenden Soldaten und, im letzten Kriegsjahr, das Eingreifen der USA zustande kam.
Was hingegen wahrlich global war, in jenem Jahr 1918, war H1N1 oder, wie sie besser bekannt ist, die Spanische Grippe. Lange Zeit galt sie als eine Grippe-Epidemie, die auf den Rockzipfeln des grossen Kriegs ritt und in wenigen Monaten um die 20 Millionen Menschenleben gefordert hatte – gleich viele wie der Krieg selbst. Doch jetzt, mit einem Jahrhundert Abstand, realisieren Wissenschaftler und Historiker, dass die Spanische Grippe weit mehr war als eine verstörende Tragödie am Ende eines schrecklichen Kriegs.
Das fängt mit den Dimensionen an: Nicht 20, sondern 50 Millionen Tote forderte das Virus mindestens, aber es könnten durchaus auch 100 Millionen gewesen sein: 2,5 bis 5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Die riesige Bandbreite ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass es damals noch gar nicht möglich war, die Krankheit klar zu identifizieren, da Viren noch gar nicht entdeckt waren, weil für optische Mikroskope zu klein. Die Grippe wurde so manchmal auch mit Lungenpest verwechselt, da sich die Symptome zum Teil ähnelten. Zudem steckten die Epidemiologie und die Seuchendatenerhebung noch in den Kinderschuhen. Im Mittleren und Fernen Osten, in Afrika und Südamerika wurden Zahlen, wenn überhaupt, nicht koordiniert erhoben. Oder auf gut Deutsch: Der Effekt der (übrigens fälschlicherweise so genannten) Spanischen Grippe auf den grössten Teil der Weltbevölkerung ist damals fast oder gar nicht dokumentiert oder wahrgenommen worden.
Was nicht heisst, dass die Wirkung nicht dramatisch war. Die Hilflosigkeit der damals noch jungen Schulmedizin erschütterte den Glauben an diese nachhaltig, gelang es doch auch den grössten Koryphäen nicht, die Ursachen oder gar ein Gegenmittel zu finden. Doch diese Vertrauenskrise, die wieder «magische» Praktiken wie die Homöopathie auf die Bühne brachte, war nichts gegen die Folge der Verheerungen, die zum Beispiel unter den Yupik, Ureinwohnern im westlichen Alaska, angerichtet wurden, wo von der Grippe ganze Dörfer restlos dahingerafft wurden und damit ihre ganze Welt, die Art, wie sie lebten, ausradiert. So geben heute noch die Älteren den Jungen den Rat, diese Zäsur in ihrer Kultur als «nallunguarluku» zu behandeln: so zu tun, als wäre es nicht passiert.
Dass es ausgerechnet die Toten dieser Volksstämme sind, die seit einer Alaska-Expedition von Seuchenforschern vor etwas mehr zehn Jahren Hinweise auf die Herkunft jener Grippeviren geben, ist dabei wohl eine der zynischen Seiten der Geschichte. Begraben im Permafrostboden, blieben in den Leichen dieser Ureinwohner, die wie viele andere indigene Völker besonders hart vom Virus getroffen worden waren, Teile der Viren vorhanden, und eine gute Hypothese aufgrund des in Hochsicherheitslaboren zusammengesetzten Erbguts besagt, dass das Virus vermutlich von einer Menschengrippe abstammte, die auf Schweine übertragen wurde, sich dort mit einem Vogelgrippevirus kreuzte und wieder auf einen Menschen zurücksprang. Es sei also möglich, dass die neu aufkommende Massentierhaltung des frühen 20. Jahrhunderts eine Seuche ausgelöst hat, die womöglich tödlicher als beide Weltkriege zusammen gewesen ist.
Dass diese Erkenntnisse erst in der heutigen Zeit langsam ans Licht gebracht werden, dass die Magnitude dieser Epidemie erst so spät erkannt wird, scheint auf den ersten Blick rätselhaft. Warum kann fast jeder, der etwas über Geschichte weiss, über Verdun, die Schlacht an der Somme oder die Fracht der Lusitania irgendwas zum Besten geben, aber fast nichts von der grossen Grippe erzählen? Ja, selbst unmittelbar nach der Pandemie wurde sie praktisch totgeschwiegen.
Doch schon bei der Pest ging es weit über 100 Jahre, bis die ursprünglich «Blauer Tod» genannte Seuche Eingang in das kollektive Bewusstsein gefunden hatte. Denn Seuchen sind nichts, was sich in die Geschichte eines Volks oder einer bestimmten Ethnie einfügen lässt: Es gibt keine grossen Schlachtfelder sondern nur unzählige, viele kleine. Es gibt keinen Antagonisten, es gibt keine strahlenden Helden, die für ein bestimmtes Land oder eine Ethnie stehen, es gibt keinen Pokal und keine Trophäe zu gewinnen, und diejenigen, die einen hilflosen Kampf an vorderster Front führten, waren ratlose Ärzte und vor allem verzweifelte Mütter und Frauen, die kranke Familienmitglieder pflegten und nichts machen konnten, als zu beten, dass diese nicht sterben und sie sich selbst anstecken und ihren Kindern, Brüdern, Schwestern oder Männern ins Grab folgen würden. Angst und Verzweiflung am Krankenbett waren natürlich wesentlich weniger hoch angesehen als die gleichen Emotionen auf dem Schlachtfeld, was erklärt, warum es zwar allenthalben Denkmäler für den unbekannten Soldaten, aber keine für die unbekannte Krankenpflegerin gibt, von denen nicht wenige ihre Hingabe auch mit dem Leben bezahlten.
Als vor genau 100 Jahren, am 4. März 1918, sich im Armeelager Camp Funston in Kansas der Messekoch Albert Gitchell in der Krankenstation meldete, war das der erste dokumentierte Fall von dem, was ein halbes Jahr später auf der ganzen Welt eine Todeswelle auslösen würde, die – konservativ geschätzt – 2,5 Prozent der Menschheit das Leben kostete, wobei es vor allem junge gesunde Männer und viele schwangere Frauen traf. Dieser Traum hallt noch heute nach. Doch wir lernen erst jetzt, nach und nach, die Töne dieser Kakofonie, die uns wichtige Dinge, die heute aktuell sind (staatliche Gesundheitssysteme, Impfungen, Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und sogar Donald Trump!), zu sagen haben, einzeln wahrzunehmen. Wer jetzt mehr wissen will, dem sei Laura Spinneys Buch «Die Welt im Fieber» (Originaltitel: «The Pale Rider») wärmstens ans Herz gelegt. Dort findet man zwar nicht alle Antworten, aber jede Menge Informationen und viele wichtige neue Fragen, die Historiker und Seuchenmediziner in den nächsten Jahren zu lösen probieren müssen, wenn das Bild klarer werden soll.
Und wenn Sie sich fragen, warum im Titel vom Schwarzen Tod die Rede ist, mit dem wir ja normalerweise die Pest bezeichnen, lesen Sie noch diesen Ausschnitt über die Beschreibung des Krankheitsverlaufs: «Zwei mahagonifarbene Flecken erschienen über den Backenknochen, und innert Stunden verfärbte sich das Gesicht von Ohr zu Ohr, bis es – laut einem US-Armee-Arzt – schwierig war, Weisse von Farbigen zu unterscheiden … solange etwas Rot erkennbar war, gab es noch Hoffnung. Doch sobald Heliotrop oder Lavendel oder Malve dazukamen, war der Ausblick düster. Blau verdunkelte sich in Schwarz. Schwarz tauchte zuerst in den Extremitäten auf, an Händen, Füssen, den Nägeln, stahl sich die Glieder hinauf und infundierte danach Abdomen und Torso. Wer bei Bewusstsein war, sah den Tod in die Finger eindringen und einen auffüllen … sobald das Schwarz kam, war der Tod nur mehr eine Sache von Tagen oder gar Stunden. Das Leid der Hinterbliebenen wurde durch den Anblick des Kadavers noch verstärkt: Zu geschwärztem Gesicht und geschwärzten Händen kam der schrecklich aufgeblähte Brustkorb dazu.»
Nach dieser Schilderung wundert es einen auf einmal nicht mehr, dass das kollektive Gedächtnis diese Seuche verdrängen wollte. Doch jetzt ist es im Namen der Zukunft an der Zeit, sich wieder an sie zu erinnern und von ihr zu lernen, wenn wir nicht irgendwann eine Wiederholung erleiden wollen.