Von Dr. Regula Stämpfli - Philipp Blom gehört zu den herausragendsten deutschsprachigen Historikern der Gegenwart. Sein «Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914» erzählt von verzweifelten Suffragetten-Kampagnen, dem seltsamen Leuchten namens Radium und beschreibt die «krankhafte Hellsichtigkeit» eines Neuropathen. «Die zerrissenen Jahre. 1918–1938» machen lebendig, wie leicht Demokratie sich überall in Diktatur verwandelt – nicht zuletzt auch in den Wissenschaften und Universitäten. Nun hat der begnadete Hamburger, der in Wien lebt, aber überall zu Hause ist, während seines Getty-Research-Aufenthaltes in Los Angeles ein Buch vorgelegt, das vorgibt, die Jahre 1570 bis 1700 anhand des Klimas einzuordnen. Die Kleine Eiszeit trägt den frustrierenden Titel: «Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart.»
Apokalyptisch. Anders kann man dieses schmale Nachdenken über, ja, was denn nun eigentlich? Geht es Blom wirklich um die Nacherzählung, wie sich Gesellschaften unter Klimaveränderungen entwickeln? Oder sollen wir alle Angst kriegen? Will Blom die Dystopien des 17. Jahrhunderts ins 21. retten? Propagiert er damit den Ausnahmezustand Demokratie respektive den Naturzustand Diktatur?
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«Der liberale Traum, den einige Denker des 17. Jahrhunderts zu träumen wagten, ist noch keine vierhundert Jahre alt und ist erst seit drei Generationen zumindest der offiziellen Rhetorik nach Grundlage der internationalen Politik. Drei Jahrhunderte Debatten, Revolutionen und Verfolgung waren nötig, um Menschenrechte und offene Gesellschaften zu politischen Realitäten werden zu lassen. Es kann viel, viel schneller gehen, sie wieder zu zerstören.» (S. 216)
Was soll das? «Die Welt aus den Angeln» ist ein Schnellschuss. Zusammenhangsloses Schwadronieren über Shakespeare, Descartes, Spinoza erklären nicht wirklich Hungersnöte, Krieg und sonnenkönigliche Inszenierung in diesem «langen» Jahrhundert. Wer wissen will, wie Amsterdam zum Handelszentrum (auch ein Thema in «Die Welt aus den Angeln») aufsteigt, soll das in Geert Maks «Die vielen Leben des Jan Six. Geschichten einer Amsterdamer Dynastie» nachlesen. Aber nicht bei Philipp Bloms Eiszeit-Buch, das auch punkto Hexenverbrennungen völlig danebengreift: Weder Frauenhass noch die totalitären Gesetze der Kirche machten Frauen zu Brennmaterial, sondern – man darf staunen – die Eiszeit. «Im nördlichen Europa und besonders im deutschsprachigen Raum führten die häufigen schlechten Ernten und die Angst vor Hungersnöten zu einer grausamen Form der Massenhysterie, die oft von extremer Witterung und Ernteausfällen ausgelöst wurden: der Hexenverfolgung.» (S. 53) Damit wird die ideologisch-politisch-religiöse Verwurzelung bei Massenmord verniedlicht – ein nicht unüblicher Vorgang sozialhistorischer Untersuchungen.
Die «Die Welt aus den Angeln» ist ein wahrhaft ärgerliches Buch, sowohl inhaltlich als auch sprachlich: «Historisch gesehen sind Demokratien entbehrlich. Konsumwünsche und Sicherheitsbedürfnisse der Menschen können von anderen Systemen vielleicht verlässlicher befriedigt werden, und sogar erfolgreiche Demokratien missachten demokratische Grundprinzipien, wann immer es die politische Nützlichkeit oder die Imperative der Marktwirtschaft verlangen.» (S. 258). Solche Sätze sind antiaufklärerisch und pseudo-wissenschaftlich. Denn wer in der Vergangenheit nur nach Diktaturen sucht, wird auch nur solche in der Gegenwart finden. Aufklärung heisst aber auch, sich des Mutes zur Unterscheidung, zur Differenzierung, aber vor allem zur Politik zu bekennen.
Bloms bisherige Werke erfüllten Zeit und Raum mit Bildern, Wortschöpfungen, Erzählungen und Schwingungen, wie sie kaum ein anderer Historiker zustande bringt (Markus Somm ist dies in seinem «Marignano» auch gelungen). Einfach grossartig. Doch Endzeit-Illustrationen historisch rückzublenden, mit dem Zweck, in der Gegenwart doch bitte demokratisch zu wählen? Das Buch wird allen Apokalyptikern schmecken – aber nur denen. Kriege, Verwüstungen und Hungersnöte wurden vielleicht klimatisch ausgelöst. Doch nicht das Klima bringt die Hölle, sondern die Menschen. Selbst das Genie Blom zeigt: Das Klima erzählt keine guten Geschichten. Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart.
Info: Philipp Blom. Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart. Hanser-Verlag, München 2017