Von Dr. Regula Stämpfli — Unsere Essayistin empfiehlt «Noch wach?» als Schlüsselroman unserer Zeit. Der Roman ist Zeugnis nicht von MeToo, sondern vom Zustand dessen, was sie «Siegerjournalismus» ™ nennt. Steckt nicht in jedem Journalisten ein Grundkultivierter, ein Stück Schalk, ein Stück Frauenversteher und gleichzeitig ein Stück Bösewicht?
Bis zur Lektüre von Klaus Manns «Mephisto» sah ich in den Nazis vor allem eines: das Böse. Der Roman erzählt von grosser Männerliebe, vom zynischen Aufstieg eines Opportunisten sowie von zutiefst homoerotischen und faschistischen Männernetzwerken. Die fiese Intelligenz sowie die unterwürfige Anziehungskraft der Nationalsozialisten erklärt die von «Mann zu Mann» gepflegte Herrenideologie im Roman von Klaus Mann. «Noch wach?» von Stuckrad-Barre ist das zeitgeschichtliche Pendant zu «Mephisto»: Nicht der Schauspieler, sondern der Journalist, der Verleger, der Chefredakteur spielt die Hauptrolle in diesem Stück frauenfreier Medienpolitik, die sich nur am Applaus durch andere Männer, an Klickraten und Einschaltquoten, am «Talk of the Town» orientiert.
«Noch wach?» passt perfekt in die heutige Zeit. Deshalb bespreche ich das Buch an dieser Stelle, obwohl omnipräsent. Weil das WIRKLICHE Thema von «Noch wach?» bisher unangetastet bleibt: nämlich der im Roman beschriebene Verfall demokratischer Öffentlichkeit, betrieben durch mächtige Männer und deren Mittäter. Stuckrad-Barre schreibt besessen gut. Nicht über MeToo, wie er es gerne selber glauben würde. MeToo-Romane gibt es schon längst und viele bessere. Beispielsweise «Americanah» von Chimamanda Ngozi Adichie, «Das Privileg» von Mary Adkins oder das in ensuite besprochene «Die Einwilligung» von Vanessa Springora. Den bisher besten Film zu MeToo gibt es auch schon längst: Maria Schraders «She Said» – von den zutiefst sexistischen Feuilletons führender Magazine und Zeitschriften bis heute dümmlich vernachlässigt.
In «Noch wach?» geht es eben gerade nicht um Frauen und den sexistischen Machtmissbrauch, sondern es ist DER Schlüsselroman eines archetypischen Mitläufers. Ein Ex-Junkie schreibt sich die Seele vom Leib, freundet sich mit dem mächtigsten Verleger Europas an und kriegt dafür enorm viel Kohle (einen fünfstelligen Betrag jeden Monat, munkelt man), wird sich seiner Schäbigkeit bewusst und leistet Abbitte mit einem grandiosen Roman über die Abgründe im deutschen Mediensystem und kassiert natürlich wieder viel Kohle. Aber MeToo, wie es die Werbung verspricht, nö! Drogen, käuflicher Sex, Alkohol und männliche Weinerlichkeit spielen ebenso eine wichtige Rolle wie bei der Hauptfigur in Klaus Manns «Mephisto», dem charmant-genialen Hendrik Höfgen. Das Bundesverfassungsgericht verbot 1971 den Roman. Ausschlaggebend war die Verletzung der Persönlichkeitsrechte des damaligen Theaterintendanten Gustav Gründgens. Klaus Mann versicherte, er stelle «Typen» dar, nicht «Porträts»; seinem Tagebuch vertraute er an, er schreibe ein «kaltes und böses Buch». Falls Sie «Mephisto» noch nicht gelesen haben, sollten Sie dies dringlich tun: Kein anderer Roman mag die Kombination von «empfindlich und leidend» derart geschickt als deutsches Selbstmitleid darstellen, das von einem zum nächsten Moment in erbarmungslose Schärfe und Menschenhass umschlagen kann. Zynischer Opportunismus dringt in «Noch wach?» auch durch. Für die Karriere sind besonders intellektuelle Männer, egal welche Feinsinnigkeiten sie vorspielen, anfällig. Auch reiner zynischer Opportunismus ist diesen Männern nicht fremd. Die Formate mögen boulevardesk, menschenverachtend und Hetze pur sein, doch der Umstand, dass man selber kein Krawalljournalist ist, nein, sogar sehr kultiviert, tröstet darüber hinweg, dass man die Drecksarbeit von anderen verrichten lassen kann.
«Noch wach?» von Stuckrad-Barre ist die subtil-boshafte Liebesgeschichte zweier Männer im siegerjournalistischen Mediensystem des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Sittengemälde. In einer Mischung von Personality-orientierter Information und selbstreferenzieller Beobachtung inmitten von Kulturkriegen und populistischen Verkürzungen florieren derartige Männernetzwerke überall. Hier ein Mann zu sein, ist einfach nur geil. Frauen haben im Vergleich nicht mal den Hauch einer Chance – selbst als junge, hoffnungsfrohe Aufsteigerinnen nicht. Denn ihre Aufgabe ist es, die Männernetzwerke durch «Gebrauch» durch den Chef, den Fast-Chef, den Einflüsterer, den Ressortboss, den Sportkumpel, den männlichen Untergebenen zu beeindrucken.
Männer ficken Frauen, Männer erhöhen Frauen zu Musen, Männer gebrauchen Frauen fürs Image, Männer schwängern Frauen, Männer halten sich Liebhaberinnen, aber ganz ehrlich? Männer interessieren sich echt überhaupt nicht für Frauen – abgesehen von virulenten Brunftzeiten. Doch selbst dies hat nichts mit Frauen, sondern alles mit den männlichen Begehrlichkeiten zu tun. Deshalb wird für Sex immer häufiger auch bezahlt – gerade in Deutschland. Es gibt Gerüchte über ein Hätschelkind der linken Klassik, das sich nach jedem Konzert Prostituierte bestellt und rumposaunt, wie viel geiler als normaler doch gekaufter Sex sei.
In «Noch wach?» wimmeln bedürftige, junge, gut aussehende, essgestörte Praktikantinnen herum, gerne auch mal aus der Unterschicht (mein Herz war voll mit ihnen). Daneben gibt es eine Handvoll älterer Queenbees nach dem Genre Margret Thatcher oder Elisabeth der Ersten und immer noch mehr Männer. Männer überall: Mitvieh, Mitläufer, Mittäter, Mitkumpels, Mitredakteure, die «Chef-Praktikantinnen» nur die «neuen Hühner» vom Boss nennen. Es gibt den Typus «Fummel-Opi», der als relativ harmlos gilt, da dessen Sexismus sehr notgeil und sehr offensichtlich ist und dadurch keine Gefahr für die jungen Frauen darstellt; denn über den können sie sich lustig machen. Die Melancholiker, die depressiven Alkoholiker, die Manischen, die Kokser, gegen die hat FRAU keine Chance. Klug skizziert von Stuckrad-Barre, sind diese Typen gleichzeitig Oberwauwaus und bleiben bei ihren nächtlichen Exkursionen dann die kleinen, sentimentalen Kläffer.
Irgendwann langweilt die Story dann doch – dem viel beworbenen Podcast «Boys Club» ähnlich. Weil Roman und Podcast die wichtige Analyse und die Schärfe der Zeit entgehen: MeToo liefert eben nie nur Storys, sondern entlarvt DAS SYSTEM – das es bei Weitem nicht nur im Boulevard gibt.
Anders als bei Klaus Mann wird bei Stuckrad-Barre und dem Podcast «Boys Club» das hinter den zynischen Karrieremustern steckende Männerkartell nicht entlarvt. Die Medienschaffenden versuchen Täter und Opfer zu stilisieren, entlang des gängigen Duktus, und sie übersehen die homoerotische Totalität auch unter Heteromenschen, die sich alle gemeinsam auf dem Haufen eliminierten Leichen von hochtalentierten Frauen treffen, austauschen, sich auf sich gemeinsam beziehen. Über Jahrzehnte hinweg belohnen sie sich gegenseitig mit Postenschacherei, selbst nach dem eigenen Ableben wird dafür gesorgt, dass die ewig gleichen Namen mit inbrünstiger Männerliebe wiederholt, gesendet und repetiert werden. Sexistische Enteignung vererbt sich über Jahrhunderte; Männer müssen nichts lernen, sie müssen nichts merken, und wenn sie auf diese Strukturen hingewiesen werden, reagieren sie mit grosser Verletztheit: «What, me? Ich, ein ausgesprochener Feminist der ersten Stunde?»
Markus Lanz und Richard David Precht wiederholten gerade diesen Satz in zwei ihrer kürzlich gesendeten Podcasts. Ein angenehmes Männergelaber, das sich das ZDF im Jahr über eine Million Euro kosten lässt. Derart uninformiert über Feminismus zu quatschen, prägt die erfolgreichen Männerduos. Jan Böhmermann und Olli Schulz sind die woke Variante von Lanz und Precht: Sie unterscheiden sich bezüglich Frauen indessen nicht; denn Frauen gehören bei denen auf den Scheisshaufen, es sei denn, es handle sich um Transfrauen, notabene. An Boomer-Peinlichkeit nicht zu überbieten ist auch der Kunstpodcast von Giovanni di Lorenzo und Florian Illies: Sie eliminieren Frauen im 21. Jahrhundert erneut und sehr konsequent aus dem Kunstkanon. Die umwerfende Luise F. Pusch («Das Deutsche als Männersprache») meinte unlängst dazu: «Für nichts wird so viel Reklame gemacht wie für Männer. Unentwegt erinnern sie an sich selbst: auf Geldscheinen, Briefmarken und Gedenkmünzen, mit Bronzebüsten und Strassenschildern, in Lexika und Zitatensammlungen. Männer übererben nur, was sie ererbt von ihren Vätern haben – an das ‹mütterliche› Erbe müssen wir Frauen uns schon selbst erinnern.»
Selbst dies schaffen die Frauen in «Noch wach?» nicht. Die Missbrauchten, Verratenen, Ausgenützten, Naiven, Überwältigten, Vergewaltigten suchen zwar Hilfe, meist viel zu spät, leider – und wo tun sie dies? Genau. Wieder bei den Männern, die dadurch deftiges Romanmaterial kriegen. Und die Frauen bleiben dabei furchtbar einsam.
Das ist Siegerjournalismus pur: Wie in der Kunst zählt im Journalismus schon längst nicht mehr das Können, das Handwerk, die Recherche, sondern das Netzwerk. Junge Frauen machen dabei dank «Authentizität» ein paar Jährchen mit, doch der Nachschub von neuen Modellen läuft wie geschmiert. Je brachialer, politisch unkorrekter, skandalöser, perverser und vor allem antifeministischer einige Journalist*Innen sind, umso höher ihre Chancen, eine der begehrten Kolumnen zu kriegen. Von links bis rechts häufen sich Magazine und Zeitschriften, die sich mithilfe von jungen Frauen (die sie dann entsorgen) im Herrenkult des Extravaganten und der umwerfenden Fiktionskraft ausschliesslich Empörungsthemen widmen; hier gerne gegen Frauen allgemein und gegen jede demokratische Veränderung im Besonderen. Erinnern Sie noch an Michèle Roten? An die «Miss Universum», die damalige Starschreiberin für «Das Magazin», dessen ehemaliger Chefredakteur jüngst in die Schlagzeilen geraten ist? Roten propagierte Prostitution, Exhibitionismus und machte sich schon vor Jahren über Alice Schwarzer lustig. Nach einigen wortgewandten Jahren verschwand sie – wie viele andere junge Frauen vor ihr und nach ihr – in die Privatheit und taucht nur noch selten in den Medien auf. Oder wie war dies nochmals mit Ronja Rönne? «Warum mich der Feminismus anekelt» war ihr Paradestück in der «Welt» vom 8.4.2015. Sie fand nach einem Shitstorm nur kurze Zeit Platz im Siegerjournalismus, ebenso Margarete Stokowski, die nach Erkrankung nun nur noch regelmässig im Fragebogen von «Der Freitag» als Fragefigur zur Rubrik «Der Kommunismus ist …» verheizt wird.
Es gibt unzählige Frauen in den letzten dreissig Jahren, die als Junge in vielen Magazinen, Zeitungen und Zeitschriften mit Feminismus-Themen Aufsehen erregt haben und immer wieder verschwunden sind. Noch etwas: Dass sich der Transaktivismus im Siegerjournalismus so exzellent platziert hat, ist kein Zufall. Er passt in den codegetriebenen Frauenhass, der Frauen zufällig zum selben Zeitpunkt, an dem sich diese endlich in MediaToo und MeToo zu wehren beginnen, wiederum zum Schweigen verdammen soll. Hinter dem Irrsinn, «Mütter» als «entbindende Personen» zu diffamieren oder von einem von «Islamist*Innen» eroberten Kabul (echt jetzt? Die Taliban als Frauenfreunde?) zu schwafeln, steckt Strategie. Wie jüngst, sehr deutsch, sehr historisch übrigens, als Frauen in den evangelischen Medien als «Krebsgeschwür» mit «Metastasen» diffamiert wurden. DAHER weht der Wind! Frauen sollen, einmal mehr in der patriarchalen Geschichte, diesmal einfach in progressiver Tarnung, unsichtbar, eliminiert, ausgelöscht und vernichtet werden.
Lesen Sie «Mephisto» von Klaus Mann und «Noch wach?» von Benjamin von Stuckrad-Barre. Sie lernen viel über den Sound und die Struktur unserer Zeit(en).
Benjamin von Stuckrad-Barre, Noch wach? Roman. 2023.
Podcast auf Spotify: Boys Club: Macht & Missbrauch bei Axel Springer.
Frauen als Krebsgeschwür bei Matthias Albrecht auf www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/214598/12–04-2023