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7 Rubel für Europa

Von Alexan­dra Port­mann — Was ist Europa? Was ist Moldaw­ien? Eine plaka­tive Gegenüber­stel­lung von reichem West­en und armen Osten? Wohl kaum in Nico­le­ta Esinen­cus Stück «Fuck you, Eu.ro.Pa!». Am 26. und 27. März 2010 war die Insze­nierung des berühmt berüchtigten Stücks vom freien Stuttgarter The­ater­la­bel  «TART Pro­duk­tion» im Schlachthaus in Bern zu sehen.

Aus dem Amer­i­can Dream wird ein Euro­pean Dream. Ameri­ka ist weit weg und fremd, Europa hinge­gen nahe und bess­er? Welche Hoff­nun­gen sind an Wes­teu­ropa geknüpft?

Eine Frau kehrt in ihr Heimat­land Moldaw­ien zurück und stellt sich die Frage, was ihr Land ihr gegeben hat. Der Vater der Frau wird in ihrem «Essay»/ Monolog zum Adres­sat­en der per­sön­lichen und his­torischen Iden­tität­spro-bleme. «Fuck you, Eu.ro.Pa! – Wieso fuck?». Gnaden­los ehrlich rech­net sie mit ihrem Heimat­land ab, genau­so aber auch mit der Zu-kun­ft, auf die sich Moldaw­ien vor­bere­it­et. Die sozial­is­tis­che Ver­gan­gen­heit der ehe­ma­li­gen sow­jetis­chen Repub­lik ist längst vor­bei. Seit 1991 ist Moldaw­ien ein eigen­ständi­ger Staat, der sich aber auf Grund der ver­schiede­nen eth­nis­chen Bevölkerungs­grup­pen in ein­er schw­eren Iden­tität­skrise befind­et. Würde die Zuge­hörigkeit zu Europa eine neue «Heimat» schaf­fen? Diese Frage stellen sich die meis­ten Län­der Osteu­ropas. In Esinen­cus’ Stück ist aber das Ide­al des «gold­e­nen West­ens» für die Frau gescheit­ert. Die Glob­al­isierung, der hem-mungslose Kon­sum und die schein­bar gren­zen­losen Möglichkeit­en sind auch keine überzeu­gende Per­spek­tive für eine Gen­er­a­tion, die sich in einem poli­tis­chen Nir­gend­wo befind­et.

Das Stück «Fuck you, Eu.ro.Pa!» the­ma­tisiert das kul­turelle Bedürf­nis nach Iden­tität und Zuge­hörigkeit. Moldaw­ien ist das ärm­ste Land Europas. Seit Rumänien 2007 in die EU aufgenom­men wurde und ihre Ost­gren­ze abgeriegelt hat, wer­den immer wieder Abspal­tungs­forderun­gen der rumänis­chsprachi­gen Region Moldaw­iens gestellt. Die Frage nach Iden­tiät ist für Nico­le­ta Esinen­cu Pro­gramm. Entsprechend find­et sich die poli­tis­che Brisanz in ihrem Büh­nen­werk wieder. Mit ein­er direk­ten und scho­nungslosen Sprache kri­tisierte sie den zwang­haften Iden­tiät­sum­bil­dung­sprozess Moldaw­iens und Rumäniens sowie die Hal­tung der Län­der zur sozial­is­tis­chen Ver­gan­gen­heit.

Nico­le­ta Esinen­cu stammt aus Chisin­au in der Repub­lik Moldaw­ien. Nach ihrem Studi­um der The­ater­wis­senschaft und Büh­nen­bild an der Kun­sthochschule arbeit­ete die junge Autorin als Dra­matur­gin am The­ater Eugène Ionesco in ihrer Heimat­stadt. Inzwis­chen hat sie ihr eigenes freies The­ater in Chisin­au, Mobile Euro­pean Trail­er The­atre, aufge­baut. «Fuck you, Eu.ro.Pa!» ent­stand 2003 während des Stipendi­ums der Autorin an der Akademie Schloss Soli­tude und wurde 2005 erst­mals veröf­fent-licht. Dabei wur­den so heftige poli­tis­che Kon­tro­ver­sen in Moldaw­ien und in Rumänien aus­gelöst, dass das Stück in der Repub­lik Moldau zunächst gar abge­set­zt und anschliessend in «Stopp, Europa» umbe­nan­nt wurde. Das mit­tler­weile weltweit gespielte Stück wurde mit dem rumänis­chen The­ater­preis «dra­mAcum» aus­geze­ich­net. 2007 erschien ein Band der Stücke und Essays der Autorin «Nico­le­ta Esinen­cu. A(II)Rh+». Sie wur­den sowohl auf rumänisch als auch auf deutsch zusam­men­stellt.

Das freie Stuttgarter The­ater­la­bel «TART Pro­duk­tion» insze­nierte in der Regie von Johan­na Nie­der­müller Esinen­cus’ Stück im Rah­men des Pro­jek­ts «Her mit dem schö­nen Leben». Die Pre­miere war am 25. Mai 2009 im Red House in Sofia und wurde danach im Stuttgarter «The­ater Rampe» sowie in Lux­em­burg aufge­führt. «Fuck you, Eu.ro.Pa!» wird von der bul­gar­ischen Schaus­pielerin Snezhi­na Petro­va sowohl auf deutsch als auch auf bul­gar­isch gespielt. Im Pro­jekt «Her mit dem schö­nen Leben» erforscht das 1999 von Johan­na Nie­der­müller und Bern­hard M. Euster­schulte gegrün­dete The­ater­la­bel ver­schiedene Per­spek­tiv­en auf ein besseres Leben. Bere­its 2008 arbeit­ete «TART Pro­duk­tion» mit dem The­ater Bul­gar­ische Armee in Sofia zusam­men und erar­beit­ete Hein­er Müllers «Ham­let­mas­chine». Die Zusam­me­nar­beit mit der bul­gar­ischen The­ater­szene haben sie auch in ihrer sech­sten Pro­duk­tion «Fuck you, Eu.ro.Pa!» fort­ge­set­zt. 2009 erhielt die Insze­nierung den Stuttgarter The­ater­preis für die beste darstel­lerische Leis­tung sowie den Son­der­preis für eine her­aus­ra­gende Leis­tung.

Foto: zVg.
ensuite, März 2010

Artikel online veröffentlicht: 13. Oktober 2018