Von Lukas Vogelsang – Synergien, Effizienz, Kosteneinsparungen – wo genau haben diese Begriffe unsere Welt verbessern können? Im Shopping-Center und im Gewühl von Markenartikeln, welche in China produziert, weltweit gekauft werden und immer gleich aussehen? Ist es effizient, wenn Arbeitnehmer durch Umstrukturierungen an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gelangen, und während der Arbeit keine Zeit mehr da ist, über das erledigte nachzudenken? Sind Einsparungen besser, wenn Leistungen verschwinden, weil sie nicht mehr finanziert werden können? Ist Wachstum, grösser werden, wirklich eine qualitative Steigerung – und nicht eher eine quantitative Degeneration? Die gleiche Frage gilt übrigens für Fusionen. Hans Ulrich Glarner, Aargauer Kulturchef, hat es in der Aargauer Zeitung ganz treffend gesagt: «Hat man je ein Problem lösen können, indem man es halbiert?»
Klar: Mich piekt Pius Knüsel, der Direktor von ProHelvetia, der so gar nicht «pro Helvetia» klingen will mit seinen Kollegen im Buch «Der Kulturinfarkt». Im Gegenteil, alles was ich von Knüsel gelesen habe ist, dass er seiner Arbeit schon seit längerem überdrüssig ist. Bei der Lektüre von «Der Kulturinfarkt» hat mich aber vor allem die Frage beschäftigt: Bleibt man ProHelvetia-Direktor eigentlich bis in die Ewigkeit oder wäre es nicht gut, wenn ein gesunder Wechsel fix eingeführt werden könnte? Bei allem Respekt vor der voluminösen Selbstinszenierung eine Woche vor der Auslieferung des Buches: Mir fehlt bei den Infarkt-Ausführungen schlicht der Inhalt und der Respekt von Pius Knüsel als Direktor der grössten Kulturförderinstitution dieses Landes gegenüber der Kultur.
Das wesentliche in Kürze: «Der Kulturinfarkt» vertritt die These, wenn wir die Hälfte der Kulturbetriebe wegstreichen würden – wegen fehlender Effizienz, Kostendeckung, Funktion –, werde Geld frei für verbleibende Institutionen, Laien, Neues, alte Geschichten werden vergessen und die Innovation blühlt wieder auf. So einfach ist das. Dummerweise wird damit das Problem der Kulturförderung, was soll gefördert werden, nicht gelöst, sondern einfach vertagt. In 10 Jahren können wir den gleichen Text wieder vorlegen.
Drei Dinge sind mir wichtig: Die kulturelle Vielfalt ist nicht nur ein Konzept der Schweizer-Innen, sondern ist ein Teil unserer Geschichte, unseres Sozialverhaltens und unserer Innovationsbereitschaft. Man könnte sagen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich glaube sogar, die daraus geprägten Eigenschaften sind die wichtigsten und herausragenden Merkmale einer Schweizerin oder eines Schweizers. Die Vielfalt ist nicht eine Plage, sondern eine Frage an unsere Innovationsbereitschaft: Weltweit ist «Masse» und «Menge» ein Problem geworden. Überall lebt und quillt der Überfluss. Vor lauter Wäldern sehen wir die einzelnen Bäume nicht mehr. Die Bestrebungen, als Mensch oder als Produkt darin noch gesehen zu werden oder zu überleben, haben unser Beziehungsverhalten untereinander und unsere sozialen Strukturen verändert. Das ist kein kulturelles Problem, das ist ein zeitgenössisches und vor allem globales Übel. Die Antwort von Pius Knüsel und seinen Kulturinfarktern ist demnach ganz falsch: Kopf einziehen und Probleme halbieren. Dabei ist es die Aufgabe der Kultur und der Kulturschaffenden, hier zu Experimentieren und Diskussionsgrundlagen zu schaffen. Radikal übersetzt würde Knüsels-These heissen: Der Planet lebt mit der Hälfte der Weltbevölkerung besser. Eliminieren wir die Drittweltländer und nutzen wir den freiwerdenden Platz für Zweitwohnungen.
Von der Vielfalt an Kulturinstitutionen sind weniger die grossen Institutionen betroffen (die haben politischen Rückhalt), als die Kleinen. Es gibt normalerweise nur ein Stadttheater in einer Stadt, aber noch viele kleine Bühnen daneben. Pius Knüsel tut nichts, als die Leuchtturm-Strategie aufs Neue aufzuwärmen – nachdem wir uns vor Jahren schon ausgiebig dagegen ausgesprochen haben. Knüsel vergisst, dass auf einer grossen Bühne noch kein Schauspieler gross geworden ist. Da ist noch ein Weg. Das Verringern von professionellen Strukturen nützt keiner Laienförderung. Im Gegenteil: Die Laien werden kaum in die professionelle Liga aufsteigen können – es hat da keinen Platz. Durch die Reduktion von Kunst- und Kulturräumen nehmen wir eine der wichtigsten Grundlagen des kulturellen und künstlerischen Schaffen: räumliche Existenz. Nur die Vielfalt von Bühnen und den chaotisch anmutenden Kulturbetrieben, können garantieren, dass sich das Kunst- und Kulturschaffen entwickelt. Die vermehrte Förderung von Kunsthochschulen, Fachhochschulen, Beamten- oder gar politischen Kulturaufträgen ist der flasche Weg – vor allem ist das keine freie Kultur. Ketzerisch könnte man den Vergleich bringen: Wer baut das Haus? Der Akademiker oder der Handwerker? Durch die Halbierung der Kulturinstitutionen wird auch das geschulte «Fachpersonal» halbiert. Das Problem ist dabei nicht in erster Linie der Verlust von Arbeitsplätzen, sondern der Verlust von Know-how. Wenn wir jetzt beispielsweise 100 Lehrlinge ausbilden können, würden wir in Zukunft nur noch die Hälfte anlernen. Das ist ein Verlust – auch auf dem internationalen Parkett. Die Schweiz hätte ein weiteres Exportgut weniger und wir kämen nicht darum herum, aus dem Ausland das Fachwissen zu importieren.
Dies bringt mich gleich zum dritten Punkt: Bereits heute haben wir das Problem, dass die Schweizer Kultur- und Kunstschaffenden zu wenige Plattformen erhalten. Die Veranstalter «importieren» bereits jetzt mehr Programme aus dem Ausland, als dass wir unser eigenes künstlerisches Potential exportfähig aufbauen. Die Leuchtturm-Strategie setzt die ProHelvetia bereits bei KünstlerInnen um – mit dem Effekt, dass nur wenige mit viel unterstützt werden. Jetzt will man dieses System auch für Institutionen durchsetzen. Was nicht geschrieben wird: Wenn die ProHelvetia Leuchtturm-Künstler unterstützen, so nur unter der Bedingung, dass die lokalen Kulturförderungsstellen der Künstler mindestens zwei Drittel mitfinanzieren. Durch solches Einwirken dirigieren die «Mächtigen» der Kultur, wie die ProHelvetia, das ganze Schweizerische Kulturschaffen. Und so wächst die Kulturmacht auf der falschen Seite. Die Aussagen von Knüsel im Buch werden damit zur politischen Propaganda für sein Fördermodell. Das ist nicht gut.
Aber eines ist Pius Knüsel und seinen Mitstreitern natürlich perfekt gelungen: Das Thema «Kulturförderung» ist fast in jeder deutschsprachigen Zeitung diskutiert worden – ohne jeglichen Lösungsansatz für eine konkrete und intelligente Kulturförderung, die sich problemlösend auch national einsetzen liesse. Ich befürchte sogar, deswegen wird die Kulturförderung erst recht belächelt und noch weniger ernst genommen. Aber Pius Knüsel hat perfektes Marketing gebracht, zum richtigen Zeitpunkt mit dem falschen Ansatz. Und wir wissen jetzt: Auch den Pius Knüsel können wir uns wegsparen.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 112 Bern, April 2012