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SIE

Von Bar­bara Roel­li - In Zürich besteigen wir den EuroC­i­ty-Zug Rich­tung Chi­as­so. Es ist Herb­st­fe­rien­zeit — der Zug ist voll von Tess­inbe­such­ern; solchen wie wir. Der Unter­schied: Wir haben keine Platzreser­va­tion. Also bugsieren wir uns und unsere Kof­fer Rich­tung Bistro, welch­es an diesem Son­ntagvor­mit­tag erfrischend ruhig und prak­tisch leer ist. An einem Zweier­tisch set­zen wir uns – stolz darüber, auf die Idee gekom­men zu sein, im Bistro die Reise zu ver­brin­gen: Jet­zt genehmi­gen wir uns, zum Auf­takt der Ferien, einen Apéro. Chas­se­las bitte! Langsam entspanne ich mich. Bis zu jen­em Zeit­punkt, als SIE den Wagen betritt. SIE set­zt sich mit ihrem Gefolge — ein­er jun­gen Frau, einem jun­gen Mann und zwei Jugendlichen — an einen grösseren Tisch schräg hin­ter uns. Dann geht’s los: Beiun­seremAb­schlusssind­dieLehrerhack­evol­lim­Schul­haus­rumge­torkel­tim­Fall. DaswarenvolldieAlkoholiker.UndbeiderPartywurdeeinerzumKrüppelgeschlagen. Der­sitzt­jet­z­tim­Roll­stuhl.” SIE wäre mir optisch nicht aufge­fall­en. Es ist ihre Stimme, die ohne Vor­war­nung in mein Ohr dringt. Ja, dringt! Die hohe Fre­quenz dieser Stimme höre ich nicht bloss – sie bohrt sich richtigge­hend in meinen Gehöhrgang, in den meines Gegenübers, in jede Ritze dieses “Bor­d­bistros, das durch die Land­schaft Rich­tung Süden rast. SIE redet von einem Pferd, das SIE an eine Wand gedrückt hat, über mexikanis­che Ein­wan­der­er, die einen Herz­in­farkt haben. Ah, es geht um einen Trick­film. Dann singt SIE die Melodie von den «Flint­stones». Zwei Söhne vom Bösewicht wer­den ent­führt – e huere geili Szene. Thomas find­et sie auch super. Ein Denkprozess scheint nicht stattzufind­en, denn SIE ken­nt keine Pausen. Was ihr in den Sinn kommt, wird schnurstracks zu Wörtern, Sätzen, Monolo­gen ver­ar­beit­et und ver­müllt den ganzen Raum. Noch geil­er finde ich den Film, wo John Tra­vol­ta den schwulen Bullen spielt. Den Film habe ich mit Thomas gese­hen. Jemand anderes würde vielle­icht sagen, SIE sei «eine Aufgestellte», aus ihr spru­dle es ein­fach her­aus. Ich tippe auf ein Aufmerk­samkeits­de­fiz­it-/Hy­per­ak­tiv­itätsstörung (ADHS). Öis­es arme Mami hätt alles müesse uf-näh…Nightrider, Bay­watch… Kännsch Avatar? Ich und de Thomas liebid Avatar! Ich find’s e geniale Film – är bringt dich au ech­li zum Nachdänke. Ich glaube SIE spricht auch, wenn SIE nach­denkt. Ja, in 3D finde ich Ely­si­um auch geil. Das ist auch ein Film, der dich zum Nach­denken bringt. Thomas und ich haben uns den zusam­men angeschaut. Dort geht’s drum, dass es in Zukun­ft zwei Klassen Men­schen gibt – die in der ersten und die in der zweit­en Klasse. Diese Kon­fronta­tion finde ich genial. Thomas auch. Ich über­lege, noch mehr Chas­se­las zu bestellen. Ich war vor zwei Tagen am Film schauen mit Thomas… Es ging um einen Bösewicht, der als Held da ste­ht und einen weichen Kern hat – die Idee ist genial! Meine Lieblingsszene ist die, wo er sagt: Ich werde mich jet­zt töten. Ich schaue aus dem Fen­ster, wir sind eben aus dem Got­thard­tun­nel gefahren. Immer wieder höre ich Fet­zen des Monologs: Er sitzt irgend­wo auf ein­er Galax­ie und will auf die Erde zurück… Dä hani scho uf änglisch glueget… Also für mich per­sön­lich – ich find die Story…naja, aber der Film ist geil gemacht. Ich schaue auf die Uhr. Es dauert noch zwei Stun­den, bis wir in Lugano ankom­men. Nach 10 Sekun­den hat­te Sascha genug – er hätte Thomas in die Fresse hauen kön­nen.

Der Zug fährt in Bellinzona ein. Plöt­zlich merk­ten die Ärzte, dass mein Beck­en zu schmal ist. Da braucht’s einen Kaiser­schnitt – hiess es. SIE ver­lässt mit dem Gefolge den Zug. Eine Frage habe ich noch: Wer ist eigentlich Thomas?

Foto: zVg.
ensuite, Novem­ber 2013

Artikel online veröffentlicht: 18. Juni 2019