Von Vesna Mlakar — Christian Spuck verlässt Stuttgart mit einer beeindruckenden Gala: Stolz und Wehmut zugleich – das brach Reid Anderson fast die Stimme. Obwohl der scheidende Haus-Choreograf allein für das Programm der Abschiedsgala am 7. Juli im Stuttgarter Opernhaus verantwortlich zeichnete, behielt sich sein künstlerischer Ziehvater und Intendant des Stuttgarter Balletts die Eröffnung vor. Seine Ansprache spiegelte die ganze Dimension des Augenblicks wider: Verlust des innerhalb von 16 Jahren vom Eleven der Cranko-Schule zum Tänzer, dann zum Choreografen von internationaler Bedeutung gereiften Künstler; dessen «Entführung» zweier Elitesolisten – Katja Wünsche/William Moore – an die neue Wirkungsstätte; Freude am Export eines Talents «Made in Stuttgart» sowie der Gewinn eines Chefkollegen, der mit Bewegung ebenso umgehen kann wie mit Menschen, und der sich neben einer eigenen choreografischen Sprache das Rüstzeug zum erfolgreichen Ensembleleiter angeeignet hat.
So begrüßte er «glücklich-unglücklich» den gebürtigen Marburger, der im Zuschauerraum Platz genommen hatte, mit den Worten: «Herzlich willkommen, Herr Direktor». Dieser wiederum hätte die zweieinhalb folgenden Stunden nicht besser nutzen können, um Zurückbleibenden noch einmal die Spannweite seiner Arbeit, die Verbundenheit mit Weggefährten, und damit letztlich seine Eignung für den verantwortungsvollen Posten vor Augen zu führen.
Mit «Lulu – Eine Monstretragödie», dessen Ouvertüre zu Musik von Schostakowitsch Spuck an den Anfang stellte, wagte er 2003 sein erstes abendfüllendes Handlungsballett. Eine sich steigernde, gegen Ende fast drastische Befreiung seiner Titelprotagonistin von jeglichen Zwängen des akademischen Ballettvokabulars machte ihren sozialen und seelischen Verfall mit rein tänzerischen Mitteln deutlich. In einem Ausschnitt rief Urbesetzung Alicia Amatriain in kurzem weißen Kleidchen, messerscharf in alle Richtungen geworfenen Beinen und ihren kindfraulich partnerumschlingenden Bewegungen (Evan McKie/Männerensemble) die Faszination und Wucht des Tanzdramas in Erinnerung.
Die melancholische Düsternis konterkarierten Passagen aus Spucks genialem Choreografiestreich „Don Q.“ – ein von Ideen nur so sprühendes Meisterstück über einen älteren Herrn (Egon Madsen) und seinen jungen Weggefährten (Eric Gautier), die in ihrer absurden Zweckgemeinschaft gefangen sind. 2007 für das Theaterhaus Stuttgart in Anlehnung an Cervantes Vorlage ersonnen, begeistert diese «nicht immer getanzte Revue über den Verlust der Wirklichkeit» (so der Untertitel) mit zahlreichen Anspielungen und skurrilen Episoden. Einen Flashback auf Spucks erstmalige Verlagerung der Musiker auf die Bühne sowie seinen dynamischen, nie wirklich vorhersehbaren Umgang mit Gruppen bot die darauf folgende Sequenz aus «Das siebte Blau».
Dazwischen platzierte Spuck die Männersoli «Äffi» (M. Goecke zu Songs von Jonny Cash, Interpret: William Moore) und als obskures Gegenstück «Mäuse» von Louis Stiens für dessen Ensemblekollegen Robert Robinson. Mit Marijn Rademaker und McKie fügte sich dazu – als Hingucker voll ästhetisch-poetischer Findungsgewalt im Spiel mit der Illusion von Wasser- alias Individualitätsspiegelungen – das Duo «Fingerspitzengefühl» von Demis Volpi. Eine schöne Reverenz vor Originalität und gegenseitigem Ansporn. Kein unwichtiger Aspekt für den künftigen Zürcher Hausherrn, der am 13. Oktober mit einer Uraufführung von «Romeo und Julia» selbst in Konkurrenz mit u.a. John Crankos Version treten wird und neben Eigenkreationen Werke anderer (ab Februar 2013 z.B. von Forsythe, Edward Clug und Paul Lightfood/Sol Léon) in sein Repertoire integrieren will.
Ein weiterer Name der nachrückenden Stuttgarter Jungchoreografen, den Spuck im November mit einer Kreation für das Junior Ballett eingeladen hat, ist Douglas Lee. Sein Markenzeichen sind die extreme Körpermodellage im Raum und virtuoses Partnering. Eigens für die Gala choreografierte er den mehr als nur athletisch höchst anspruchsvollen Pas de Deux «Aria» (Wünsche/Moore).
Im Zentrum der zweiten Vorstellungshälfte platzierte Spuck den abstrakten Mittelteil seines letzten Balletts für Stuttgart: «Das Fräulein von S.» – ein Paradefall zur Überprüfung der Vielfalt seines Vokabulars, seiner Musikalität und Bandbreite an Bewegungsvarianten in Soli oder der Kombination von Paaren. Im Vergleich zu Bigonzettis durchaus gelungenem Pas de Deux aus «Kazimir’s Colours» (Elisabeth Mason/Alexander Zaitsev) wurde spätestens jetzt Andersons Ansage «Sie werden sehen, was wir hier verlieren» klar.
Für Lacher sorgte Itzik Galilis Beziehungskistenparodie «Sofa» (Gauthier Dance) und Spucks urkomische Persiflage «Le Grand Pas de Deux», worin die unvergleichliche Amatriain mit Brille und rotem Handtäschchen die ambitionierten Allüren ihres Partners Jason Reilly ebenso wie die grazile Leichtigkeit der Klassik ad absurdum führt. Dramaturgische Klammer nach der Pause war Spucks Büchner-Adaption «Leonce und Lena» – ein poppig-unterhaltsames Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht. Hier fand der Choreograf fabelhafte Entsprechungen für Kleinstaaterei und in leeren Ritualen erstarrte Borniertheit des Adels. Das Stück besticht durch groteske Einfachheit, v.a. wenn Männer wie Frauen, die Hand an der Hüfte, minutenlang mit bäurisch-besserwisserischer Miene ins Publikum glotzen, um dann in buckliger Haltung zur Fledermaus-Ouvertüre einen rustikalen Walzer im Stil Pieter Brueghel des Älteren hinzulegen. Am 27. April ist in Zürich Premiere, wo Spuck die Nachfolge Heinz Spoerlis antritt.
Zum Abschied seiner Stuttgarter Ära aber brachte Spuck den engen Zusammenhalt innerhalb der Truppe auf den Punkt. Dabei konnte er – was für ein Coup – aufs Finale seiner Ballettkomödie «Leonce und Lena» zurückgreifen, bei der das Hauptpaar Wünsche/Moore resignierend winkend an Hofstaat und Ensemble nach hinten abgeht. Tränen beim Schlussapplaus trocknete der Trost: bloß zwei Stunden per Auto in die Schweiz…
Foto: zVg.
ensuite, August 2012