- ensuite - Zeitschrift zu Kultur & Kunst - https://www.ensuite.ch -

Advantage “Freie” Marktwirtschaft

Von Karl Schüp­bach — In der Som­mer-Num­mer von ensuite — kul­tur­magazin kom­men­tiert Lukas Vogel­sang in gewohnt bril­lanten For­mulierun­gen den pos­i­tiv­en Aus­gang der PRO­GR-Abstim­mung. Während das Sprachempfind­en also voll auf seine Rech­nung kommt, provoziert der Inhalt sein­er Aus­führun­gen zum Wider­spruch, weil er meinen Vorstel­lun­gen diame­tral gegenüber­ste­ht.

Im Ten­nis-Sport gibt es eine Sit­u­a­tion, wo bei­de Spiel­er fast gle­ichauf ste­hen, der eine aber doch die Nase insofern vorne hat, als er nur noch einen einzi­gen Punkt braucht, um das Spiel zu gewin­nen. Man spricht in dieser Sit­u­a­tion von «advan­tage». Die «Freie» Mark­twirtschaft ste­ht für mich auf der einen Seite des Net­zes, auf der anderen spielt die Kul­tur. Der Play­er Mark­twirtschaft – was ist daran eigentlich frei, wenn Tausende von Men­schen wegen der Habgi­er von Man­agern ihre Stelle ver­lieren und so ins Elend gestossen wer­den –, der Spiel­er Mark­twirtschaft also hat die Men­schheit mit sein­er Spiel­weise glob­al an den Rande des Abgrun­des geführt, mit sein­er Rück­sicht­slosigkeit und sein­er total­en Unter­w­er­fung unter die Macht des Geldes. Was küm­mert dies die «Freie» Mark­twirtschaft und ihren Ausstat­ter, den Mate­ri­al­is­mus?

Aber dessen ungeachtet: Es ste­ht Advan­tage «Freie» Mark­twirtschaft…

Schauen wir uns doch das arro­gante Auftreten der Finanzwelt an, es sei nochmals fest­ge­hal­ten, angesichts des grausi­gen Abgrun­des: Luftver­schmutzung gepaart mit Kli­mawan­del, zunehmender Ras­sis­mus, furchter­re­gende Zunahme der Gewalt­bere­itschaft unter Jugendlichen, die Liste ist noch lang. Es fehlt nicht an Stim­men, die aus Ein­sicht, dass es so nicht weit­erge­hen darf, nichts anderes fordern als eine Abkehr vom Mate­ri­al­is­mus bei gle­ichzeit­iger Besin­nung auf andere, men­schen­würdi­gere Schw­er­punk­te und Lebensin­halte. Es gibt wohl keine Alter­na­tive zu ein­er gewalti­gen Aufw­er­tung der Kul­tur. Die Schweiz hat hier einen weit­en Weg vor sich, man bedenke, mit welch­er Skru­pel­losigkeit vorge­gan­gen wurde und wird, um dafür zu sor­gen, dass man unser Land primär im Lichte eines attrak­tiv­en Finanz­platzes beurteilt!

Es ist ver­ständlich, dass sich die Ver­fechter der «Freien» Mark­twirtschaft mit allen Mit­teln gegen ein solch fun­da­men­tales Umdenken, gegen eine solch neue Sin­nge­bung unseres Lebens, wehren. Wenn man bedenkt, dass Bank­in­sti­tute, die gestern noch mit mil­liar­den­schw­eren staatlichen Ret­tungsin­fu­sio­nen vor dem Bankrott gerettet wer­den mussten, heute wieder Mil­liar­den an Gewinn anhäufen, so wird wohl nie­mand ern­sthaft glauben wollen, dass sich die Prak­tiken grundle­gend geän­dert haben. Oder in der Schweiz: Im Steuer­stre­it mit den Amerikan­ern hegen gewisse poli­tis­che Kreise nur eine Befürch­tung: Unser Bankge­heim­nis kön­nte anger­itzt wer­den. Die Ein­sicht, eine ganze Men­schheit mit ein­er ein­seit­i­gen Bevorzu­gung von Reich­tum dank der Magie des Geldes in die Nähe der Fan­garme ein­er apoka­lyp­tis­chen Katas­tro­phe getrieben zu haben, ist, so kommt es mir vor, schi­er tödlich.

Sie haben sich wohl längst gefragt, was diese ganzen Aus­führun­gen mit dem erwäh­n­ten Edi­to­r­i­al von Lukas Vogel­sang zu tun haben? Lei­der viel. Lukas Vogel­sang: «Aus dem Pro­vi­so­ri­um freige­lassen, kann der PROGR jet­zt losle­gen und seine Mag­netkraft ver­stärken. Das wer­den die anderen Kul­turver­anstal­ter zu spüren bekom­men – just jene, die sub­ven­tion­iert sind. Und so wird die Dynamik des PROGR wie ein Schat­ten über diesen liegen…»

Er spricht hier von der Freien Kul­turszene, zu ihr gehört der PROGR, und von den hoch sub­ven­tion­ierten kul­turellen Insti­tu­tio­nen, das BSO und das Bern­er Stadtthe­ater. Dieses Auseinan­der­di­vi­dieren ist ein altes, in meinen Augen sehr ver­häng­nisvolles Übel.

Hier mein seit Jahren stetig wach­sendes Cre­do: Die Kul­turschaf­fend­en, freis­chaf­fend oder in ein­er grossen Insti­tu­tion arbei­t­end, erle­ichtern dem Mate­ri­al­is­mus sein Behar­rungsver­mö­gen, weil sie nicht im Stande sind, vere­int und gemein­sam dage­gen vorzuge­hen! Warum sind sie dazu nicht fähig? Weil sie sich dauernd, fast immer von Neid inspiri­erte, Grabenkämpfe liefern oder sich gegeneinan­der ausspie­len lassen. Dabei wird man oft Zeuge von unglaublich­er gegen­seit­iger Unwis­senheit, wenn es darum geht, Exis­ten­z­sor­gen zu ver­ste­hen. Lei­der tre­f­fen Unwis­senheit, Vorurteile und Spalt­pilzmeth­o­d­en auch auf Ver­anstal­ter zu.

Ich habe während 37 Jahren mit viel Engage­ment als Vio­lin­ist im BSO gear­beit­et, gle­ichzeit­ig war ich auch in ver­schiede­nen Funk­tio­nen kul­tur­poli­tisch für das Orch­ester tätig — also bin ich ein klas­sis­ch­er Spross ein­er hochsub­ven­tion­ierten, grossen kul­turellen Insti­tu­tion. Lukas Vogel­sang sagt voraus, dass das Ja zum PROGR einen Schat­ten auf die grossen Insti­tu­tio­nen wer­fen wird, also auch auf das BSO. Ich bin aber fast aus­ge­flippt vor Freude, als ich das Abstim­mungsre­sul­tat gehört habe. Ich empfinde die Zus­tim­mung als einen Teil­er­folg der Kul­tur gegen das finanzielle Estab­lish­ment. Wenn die Schat­ten-Prog­nose zutrifft, müsste ich mir doch, obwohl pen­sion­iert, Sor­gen um die Zukun­ft mein­er Kol­legin­nen und Kol­le­gen machen. Das tue ich auch, aber gle­ichzeit­ig hoffe ich, dass jet­zt endlich ein Ruck durch die Kul­turszene gehen wird! Freie Szene und etablierte Kul­turin­sti­tute im gemein­samen Auftritt! Man stelle sich vor, welch geballte Kraft da in der Land­schaft ste­hen würde, auch für die Poli­tik wäre da mit divide et impera kein Durchkom­men mehr möglich.

Worauf gründe ich meine Hoff­nung? Weltweit set­zt sich bei grossen kul­turellen Insti­tu­tio­nen die Ein­sicht durch, dass der Elfen­bein­turm ver­lassen wer­den muss, neue Pub­likum­skreise und Spielorte müssen erobert wer­den. Auf das BSO über­tra­gen heisst dies: Konz­erte in der grossen Halle der Reitschule sind ein Muss, Konz­erte in der Aula des PROGR sind ein Muss! Daraus wer­den sich Kon­tak­te ergeben, die das Gesicht der Kul­turszene in Bern wohl verän­dern wer­den.

Umgekehrt ist auch gefahren: Die so oft anzutr­e­f­fende Schwellenangst freis­chaf­fend­er Kün­stler vor den heili­gen Hallen des Casi­nos oder des Stadtthe­aters muss drin­gend abge­baut wer­den. Ausstel­lun­gen aus der freien Szene in den bei­den Foy­ers müssen alltäglich wer­den. Ich bin glück­lich, und ich erachte es als Priv­i­leg, sagen zu dür­fen, dass mir vor etwa zwanzig Jahren bere­its ein solch­er Durch­bruch gelun­gen ist: Zusam­men mit mein­er Frau organ­isierte ich Mati­neen mit klas­sis­ch­er Musik in der Reitschule. Aus­führende waren Kol­legin­nen und Kol­le­gen des BSO! Diese Konz­erte weit­eten sich zu einem riesi­gen Erfolg aus, das Pub­likum war völ­lig durch­mis­cht. Mein dama­liger Arbeit­ge­ber – Vertreter ein­er hochsub­ven­tion­ierten Insti­tu­tion wohlver­standen – stellte sich hin­ter die Konz­ertrei­he, wenn auch, wenig­stens zu Beginn, mit Zäh­neknirschen.

Abbrechen mussten wir die Serie erst, als die soge­nan­nten Vor­plät­zler die Konz­erte zu stören began­nen. Diese Leute hat­ten mit der Reitschule nichts zu tun.

Abschliessend ist es mir ein Anliegen, noch einen Grund anzufü­gen, weshalb die kün­stliche Tren­nung von Freier Szene und etabliert­er (welch grässlich­es Wort!) Kul­tur schmerzt.

In jun­gen Jahren fühlt ein junger Men­sch die Beru­fung, sein Leben der Kun­st zu wid­men. Er schliesst seine Lehr­jahre zum Beispiel als Musik­er oder als Kun­st­maler ab. Der weitaus grösste Anteil der Beruf­s­musik­er wird wohl eine Orch­ester­stelle antreten, der Kun­st­maler hat diese Möglichkeit eines Ein­trittes in ein sub­ven­tion­iertes Kollek­tiv nicht, er wird in der Freien Szene arbeit­en. Sie sind bei­de schick­sal­haft einem inneren Ruf gefol­gt, ihr Weg führt sie in ver­schiedene Wel­ten der Kun­st. Woher leit­et sich das Recht ein­er Bevorzu­gung oder Benachteili­gung der Bei­den ab?

Ganz zum Schluss eine Vision: In ein paar Jahrzehn­ten wird Lukas Vogel­sang im Edi­to­r­i­al des ensuite — kul­tur­magazins schreiben: Advan­tage und Sieg Kul­tur!

ensuite, Sep­tem­ber 2009